Nierenleistung messen

Welche GFR-Formel darf's denn sein?

Formeln sind in der Medizin die halbe Miete - davon können auch die Nephrologen ein Lied singen. Auf ihrem Jahreskongress in Berlin gab es zum Thema GFR neuen Stoff - und eine klare Ansage.

Denis NößlerVon Denis Nößler Veröffentlicht:
Wie steht es um die Nierenleistung? Die Inulin-Clearance lässt sich per Blutabnahme messen.

Wie steht es um die Nierenleistung? Die Inulin-Clearance lässt sich per Blutabnahme messen.

© Mathias Ernert, Deutsches Herzzentrum Berlin

BERLIN. Nephrologen sollten die Nierenfunktion ihrer Patienten mit verschiedenen Formeln abschätzen - und besser um deren Grenzen und Probleme Bescheid wissen.

Das ist eine Botschaft von der 5. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie (DGfN).

Wollen Nephrologen wissen, wie es um die Nierenfunktion ihrer Patienten steht, müssten sie nach Lehrbuchmeinung eigentlich zu langwierigen Prozeduren greifen, um etwa die endogene Clearance anhand des Urins oder die Inulin-Clearance per Blutabnahme zu messen.

Doch der Aufwand von Blutabnahme, i.v.-Infusion, Warten und wiederholten Blutabnahmen ist in den meisten Fällen schlicht zu groß.

Deswegen wird in der Nephrologie seit Jahrzehnten geschätzt, in den meisten Fällen ist die Angabe der glomerulären Filtrationsrate (GFR) "estimated", also eGFR.

Alle Formeln sind ungenau

Die älteste Formel dafür ist die Cockcroft-Gault-Formel, die bislang üblichste aber die MDRD-Formel. Beide basieren auf dem Serum-Kreatinin und geben die Clearance in Millilitern pro Minute an, die MDRD außerdem bezogen auf die Körperoberfläche von 1,73 m².

Doch diesen Formeln - auch neueren - ist gemein, dass sie Ungenauigkeiten haben, etwa einen großen Bias oder die GFR nur wenig akkurat abschätzen.

Denn entstanden sind sie aus ganz speziellen Populationen. Und so entstehen an den Messrändern der GFR Ungenauigkeiten.

Bekannt ist etwa, dass die MDRD-Formel bei Diabetikern, Kindern und Menschen ab 70 Jahren nicht verwendet werden sollte. Auch sehr geringe Filterleistungen unterschätzt sie.

In der Praxis kann es deswegen immer wieder vorkommen, dass die Nierenleistung auf Basis einer GFR-Schätzung falsch eingeschätzt wird oder Patienten gar einem "falschen" Stadium der chronischen Nierenerkrankung (CKD) zugeordnet werden.

Seit Jahren arbeiten Nephrologen weltweit deswegen an neuen Schätzformeln, die die heuten Unschärfen vermeiden sollen.

Neuer Marker Cystatin C

Als neuen Marker haben die Fachärzte Cystatin C entdeckt. Das kleine Protein ist wesentlich genauer als Serumkreatinin, weil seine Syntheserate stabil und weitgehend unabhängig etwa von Alter oder Körpergröße ist.

Außerdem deckt es auch den sogenannten kreatininblinden Bereich ab, also den Abfall einer glomerulären Filtrationsrate von etwas weniger als 50 Prozent, in dem das Serumkreatin noch nicht ansteigt.

Neuere Formeln, etwa die CKD-EPI oder die BIS2, decken deswegen auch Berechnungen über Cystatin C ab. Doch auch diese Formeln haben allesamt ihre ganz typischen Grenzen. "Alle Schätzformeln sind populationsspezifisch", erklärte Privatdozentin Elke Schäffner, die an der Berliner Charité das BIS-Projekt leitet, auf dem DGfN-Kongress in Berlin. Ihr Team hat die eGFR-Formeln BIS1 und BIS2 entwickelt.

Populationsspezifischer Bias

Die MDRD-Formel etwa wurde bei Patienten mit CKD entwickelt. GFR-Werte bei gesunden Probanden würde sie immer unterschätzen. Auch sind die Formeln nur bis zu einem gewissen Grad akkurat. Die MDRD-Formel etwa bringt es auf eine sogenannte P30-Exaktheit von 81 Prozent.

Das heißt: Bei 19 Prozent der Patienten, für die mittels MDRD die GFR geschätzt wird, liegt der tatsächliche Wert letztlich sogar außerhalb der Standardabweichung.

Das wird spätestens zum Problem, wenn Ärzte ihre Patienten anhand der Werte in ein CKD-Stadium eingliedern wollen. Nach der neuen Klassifikation wird die moderat reduzierte Nierenfunktion in die Stadien 3a und 3b unterteilt (GFR 45 bis 59, beziehungsweise 30 bis 44).

Kleinste Abweichungen bei der Schätzung der GFR können hier bereits dafür sorgen, dass Patienten in andere CKD-Stadien eingeteilt werden.

Formeln können Patienten auf dem Papier kränker machen

Hier zeigt sich laut Schäffner auch eine Schwäche der MDRD-Formel, die gerade im hohen GFR-Bereich ungenau wird: "Wir haben viele Patienten mit Stadium 2, die als Stadium 3 klassifiziert werden." Ergo macht die Formel die Patienten auf dem Papier kränker.

Bereits vor knapp einem Jahr kam eine internationale Forschergruppe zu dem Ergebnis, dass beispielsweise mit der neuen CKD-EPI-Formel weniger Patienten als CKD-Patienten gelten und ihre Einteilung in die Stadien wesentlich exakter ist als mit der MDRD-Formel (JAMA 2012; 307(18): 1941).

Auch bei älteren Menschen liegen die etablierten Schätzformeln oft daneben, denn in diesen Populationen wurden sie bisher nicht evaluiert. Das Team um Schäffner hat deswegen die BIS1- und BIS2-Formel entwickelt, die Kreatinin oder Kreatinin und Cystatin C verwenden.

Jüngst veröffentlichte Ergebnisse ihrer Arbeitsgruppe mit Probanden ab 70 zeigten, dass beide Formeln den kleinsten Messbias aufweisen (Ann Intern Med 2012; 157(7):471).

Alle anderen Formeln hatten die tatsächliche GFR in diesem Test überschätzt. BIS2 scheint also eine Alternative für Schätzungen bei älteren Patienten zu sein mit normaler bis moderat eingeschränkter Nierenfunktion.

Welche Formel ist nun eigentlich optimal?

Die Nephrologie hat also ein neues Formelset im Werkzeugkasten. Doch welche ist eigentlich die optimale?

Schäffner: "CKD-EPI ist akkurater im höheren GFR-Bereich, MDRD etwas besser bei CKD-Patienten." Vor allem für epidemiologische Forschung seien die CKD-EPI-Formeln besser geeignet.

Doch beide hätten ihre Limitationen, etwa bei Diabetes, Anorexie, Zirrhose und dem Alter über 70. Für letzteres empfiehlt Schäffner ihre beiden BIS-Formeln.

Und grundsätzlich rät sie ihren Kollegen, dass sie um die Exaktheit aller Formeln wissen sollen. In manchen Fällen, etwa bei Nierentransplantationen, sei letztlich ohnehin die gemessene GFR die bessere Alternative.

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