Baden-Württemberg

AOK & Co vor Härtetest für die Solidarität

Kostendämpfung in der GKV wird ein drängendes Problem für die nächste Regierung sein.

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Unter Druck: Die nächste Bundesregierung wird vor großen Herausforderungen stehen, wie mit den zu erwartenden hohen Defiziten in der GKV umgegangen werden soll.

Unter Druck: Die nächste Bundesregierung wird vor großen Herausforderungen stehen, wie mit den zu erwartenden hohen Defiziten in der GKV umgegangen werden soll.

© photocrew / Fotolia

Stuttgart. Die Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl werden maßgeblich bestimmt von der Frage, wer mit den sich abzeichnenden Mehrausgaben im Gesundheitssystem belastet werden soll. Das werde ein Härtetest für die Solidarität werden, sagte der Gesundheitsökonom Professor Jürgen Wasem vergangenen Donnerstag bei einer Online-Veranstaltung der AOK Baden-Württemberg.

Im laufenden Jahr habe die große Koalition dadurch Zeit gekauft, dass die Rücklagen der Kassen aufgezehrt werden müssen – das funktioniere aber nur einmal. Im kommenden Jahr werde sich in der GKV ein zusätzlicher Finanzierungsbedarf von 15 bis 20 Milliarden Euro ergeben, prognostizierte Wasem. Das entspreche mehr als einem Beitragssatzpunkt. Der GKV drohe somit eine Kostendämpfungs-Debatte. Denn Versuche der Effizienzsteigerung in der GKV wirkten allenfalls langfristig.

Wie viel Solidarität soll es sein?

Zusätzlich stelle sich die Frage, wer konkret mit Zusatzkosten belastet werden soll. Dieser Entscheidung vorgelagert sei die normative Frage, in welchem Umfang Leistungen noch solidarisch finanziert werden sollen – dies könne nur von der Politik beantwortet werden, so der Gesundheitsökonom.

Das Jahr 2022 werde bestimmt von erstens den gesamtwirtschaftlichen Effekten der Pandemie – wie etwa sinkenden Beitragseinnahmen –, zweitens von spezifischen Corona-bedingten Mehrausgaben in der GKV sowie drittens von den nachlaufenden Folgewirkungen der expansiven Gesetzgebung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Wasem machte deutlich, dass die Pandemie für den kleineren Teil der Ausgabensteigerungen in der GKV ursächlich sei.

Aus Sicht von Baden-Württembergs AOK-Vorstandschef Johannes Bauernfeind hat der Gesetzgeber Anfang der 2000er Jahre ursprünglich Freiräume für einen Vertragswettbewerb geschaffen, die dann aber schrittweise wieder verkürzt worden seien. Bauernfeind verwies für die Landes-AOK auf das Netz aus Haus- und Facharzt-Verträge, das seit 2008 sukzessive geschaffen worden ist. Der AOK-Chef plädierte dafür, den Versicherten mehr Wahlmöglichkeiten zu eröffnen – Kassen müssten dafür die entsprechenden vertraglichen Angebote schaffen.

Hilft mehr Wettbewerb?

Diesem Grundgedanken stimmte Professor Achim Wambach, Präsident des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, zu. Er sieht in Zusatzversicherungen eine Option, den Wettbewerb in der GKV zu schärfen. Es gebe bislang harten Wettbewerb auf der Kostenseite, um die Qualität der Versorgungsangebote aber nicht. „An diesem Hebel müssen wir arbeiten“, so Wambach.

Wasem reagierte skeptisch auf diesen Vorschlag. Wer Zusatzversicherungen fordere, müsse dazu auch sagen, dass auf diese der Umfang der solidarischen Finanzierung der GKV reduziert werde. Das Problem liegt aus Sicht von Wasem an anderer Stelle: Gesundheitspolitiker seien davor zurückgeschreckt, Krankenkassen zu Gestaltern der Versorgung zu ermächtigen. Darum könnten die Potenziale des Wettbewerbs heute nicht ausgeschöpft werden. „Die Politik hat Schiss gehabt“, konstatierte Wasem.

Bundeszuschüsse keine Antwort auf GKV-Finanzprobleme

Nach Ansicht des Wissenschaftlichen Instituts der PKV (WIP) werden stark steigende Zuschüsse des Bundes zur GKV programmiert sein – dann jedenfalls, wenn die von der Koalition gesetzte Grenze von 40 Prozent bei den Sozialausgaben weiterhin nicht überschritten werden soll. Nach Berechnungen des WIP wäre im Jahr 2030 bereits ein Zuschuss von 30 Milliarden Euro nötig, um allein nur die Alterung der Bevölkerung abzufedern.

Schreibe man die Entwicklung von Ausgaben und Einnahmen der GKV in den vergangenen 20 Jahren fort, dann kommt das Institut sogar auf 83 Milliarden Euro Zuschussbedarf im Jahr 2030. Der durchschnittliche Anstieg der Ausgaben betrug im genannten Zeitraum 3,2 Prozent, bei den Einnahmen waren es 1,8 Prozent. Seit dem Jahr 2013 lag der Kostenanstieg durch leistungsausweitende Gesetze noch höher und erreichte 2019 sogar einen Wert von 5,0 Prozent.

Nach Ansicht des WIP können stetig steigende Bundeszuschüsse keine Antwort auf die strukturellen Finanzprobleme der GKV sein. Erzeugt werde so eine „Finanzierungsillusion“, zudem würden Verantwortlichkeiten verwischt, kritisiert das WIP. (fst)

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