Thüringen
Anonymer Krankenschein: Große Nachfrage, steigender Finanzbedarf
Immer mehr Menschen ohne Versicherungsschutz nutzen das Thüringer Hilfsangebot des anonymen Krankenscheins, um Behandlungskosten bis zu 500 Euro abzudecken. Während der Corona-Pandemie hat sich das Klientel verändert.
Veröffentlicht:Erfurt. Das Hilfesystem des anonymen Krankenscheins für versicherungslose Menschen oder Menschen ohne Papiere in Thüringen stößt nach Einschätzung der Organisatoren zunehmend an seine Grenzen.
„Es ist absehbar, dass wir in diesem Jahr die Kosten für eigentlich nötige Behandlungen nicht decken können“, sagte Projektkoordinatorin Carola Wlodarski-Simsek vom Thüringer Verein anonymer Krankenschein. In Einzelfällen habe die Kostenübernahme in diesem Jahr bereits abgesagt werden müssen.
Bereits im vergangenen Jahr habe das Land wegen der gestiegenen Nachfrage Geld nachschießen müssen. Es zeige sich, dass das Angebot zunehmend bekannter werde, begründet Wlodarski-Simsek die Entwicklung.
Rund 200 Krankenscheine im vergangenen Jahr
In Thüringen haben im vergangenen Jahr 127 Menschen medizinische Hilfe per anonymen Krankenschein erhalten. Nach Angaben des Vereins, der das als Modellprojekt angelegte Hilfesystem für Menschen ohne Krankenversicherung oder ohne Papiere koordiniert, wurden rund 200 Krankenscheine ausgestellt.
Das seit 2017 aufgebaute Hilfesystem richtet sich laut Gesundheitsministerium an deutsche Staatsbürger, die ihren Versicherungsschutz verloren haben, ebenso an EU-Bürger und Menschen aus Nicht-EU-Ländern ohne ausreichenden Krankenversicherungsschutz oder legalen Aufenthaltsstatus.
Ausgegeben wird der anonyme Krankenschein in 36 Anlaufstellen landesweit. Der Verein arbeitet dabei mit einem Netzwerk an Vertrauensärzten. Im Landeshaushalt stehen dafür jährlich bis zu 250.000 Euro zur Verfügung. In diesem Jahr sind laut Ministerium bereits rund 153.000 Euro aufgebraucht. Angesichts des Bedarfs hofft der Verein erneut auf zusätzliche Mittel durch das Land.
Pro Schein mehrere Behandlungen möglich
Ein Krankenschein, mit dem sich die Hilfesuchenden an jede Arztpraxis und jedes Krankenhaus in Thüringen wenden können, deckt Behandlungskosten bis zu 500 Euro ab. Je Schein sind mehrere Behandlungen pro Quartal möglich, im vergangenen Jahr waren es insgesamt gut 300 Behandlungen – also statistisch zwei je Patient.
Übersteigen die Behandlungskosten die 500 Euro je Schein, muss der Verein vorher die Kostenübernahme garantieren. Im vergangenen Jahr wurde der Höchstbetrag dem Verein zufolge in acht Fällen übertroffen, darunter waren drei Entbindungen mit Komplikationen und drei Krebsbehandlungen.
Gynäkologie und Geburtshilfe machten mit rund 40 Prozent der Fälle den größten Anteil der anonymen Behandlungen aus, jeder fünfte Fall betraf die Allgemeinmedizin, in gut jedem zehnten Fall ging es um Zahnarztbehandlungen.
Verein holt manche Behandlungskosten auch wieder zurück
„Wir versuchen, allen Hilfesuchenden die Behandlung zu ermöglichen“, sagt die Projektleiterin. Sie spricht allerdings von einem Dilemma – wenn bei nicht als akuter Notfall eingestuften, dennoch schweren Erkrankungen die Übernahme der Kosten zu scheitern drohe. Der Verein versuche dann, zumindest Teilleistungen zu übernehmen.
Andererseits holt der Verein auch Behandlungskosten wieder herein, wenn sich über ein Clearingverfahren herausgestellt hat, dass es einen eigentlich zuständigen Kostenträger gibt, zum Beispiel ein Sozialamt oder eine Krankenkasse. Im vergangenen Jahr flossen so 13.000 Euro zurück.
Klientel hat sich in der Pandemie verändert
Den Effekt der Corona-Pandemie hat der Verein im vergangenen Jahr vor allem an der Herkunft der Hilfesuchenden gespürt. Statt ausländischen Arbeitsmigranten, denen der Weg nach Deutschland wegen der Lockdown-Grenzschließungen versperrt war, kamen Menschen, die nach einem privaten oder touristischen Aufenthalt wegen der Grenzschließungen in Deutschland strandeten – und deren Reisekrankenversicherung abgelaufen war.