Hydroxychloroquin und Antihypertensiva

Zwei große COVID-19-Studien zurückgezogen

Bei der COVID-19-Therapie mit Hydroxychloroquin ist die Sterberate höher als unter Placebo. Dieses Resümee haben jüngst Forscher gezogen. Jetzt haben sie ihre Studie zurückgezogen. Denn es gibt Zweifel an der Qualität der Daten. Sogar eine zweite Studie ist davon betroffen.

Wolfgang GeisselVon Wolfgang Geissel Veröffentlicht:
Faksimile der beiden zurückgezogenen Arbeiten.

Faksimile der beiden zurückgezogenen Arbeiten.

© [M] ZUMA Press / picture alliance | NEJM | Lancet

Neu-Isenburg. Die vergangene Woche im Fachblatt „Lancet“ publizierte Studie zur Therapie von Hydroxychloroquin bei Patienten mit COVID-19 mit Daten von weltweit 96 000 Patienten ist von den Autoren zurückgezogen worden. Das Gleiche gilt für eine am 1. Mai im „New England Journal of Medicine“ veröffentlichte Studie zu herzkranken COVID-19-Patienten unter Therapie mit ACE-Hemmern oder AT1-Rezeptorblockern (Sartanen).

An beiden Fachbeiträgen war Dr. Sapan Desai von der Surgisphere Corporation in Chicago beteiligt. Er hat sich nicht davon distanziert, denn offenbar liegt das Problem in den Daten des von ihm gegründeten Unternehmens. Das Geschäftsmodell von Surgisphere ist die Analyse großer Mengen medizinischer Daten, um Hinweise etwa für eine Optimierung von Therapien zu bekommen.

Für die Herzstudie stellte das Unternehmen Daten von etwa 8900 Patienten aus 169 Kliniken in Asien, Europa und Nordamerika zur Verfügung. Für die Hydroxychloroquin-Studie waren es Daten von 671 Kliniken auf „sechs Kontinenten“.

Mehr Tote, als es Tote gab?

Leser der Beiträge hatten nach Publikation große Zweifeln an der Seriosität der Daten geäußert. Zum Beispiel soll sich die Hydroxychloroquin-Studie auf eine höhere Anzahl von im Krankenhaus verstorbenen COVID-19-Patienten in Australien bezogen haben, als in Australien tatsächlich insgesamt gemeldet wurden, berichtet Ende Mai die britische Zeitung „Guardian“ unter Berufung auf australische Gesundheitsexperten.

Lesen Sie dazu auch:

Später stellte sich heraus, dass womöglich Daten eines Krankenhauses in einem asiatischen Land fälschlicherweise „Australasia“ zugeordnet wurden. Der Fehler wurde noch am 30. Mai von den Autoren korrigiert. Auf die Aussagen ihrer Arbeit habe dies aber keinen Einfluss, so die Autoren (Lancet 2020; online 30. Mai).

Ein anderes Beispiel bezieht sich laut „Guardian“ auf die Behauptung der Autoren, 4402 Patienten in Afrika eingeschlossen zu haben, von denen 561 starben. Dies hält der britische Tropenmediziner Sir Nicholas John allerdings für unwahrscheinlich. Im „Guardian“ bezweifelte er, dass überhaupt so viele afrikanische Krankenhäuser detaillierte elektronische Gesundheitsakten für so viele Patienten zur Verfügung stellen können.

Gutachter kommen nicht an Rohdaten

Die beiden Fachjournale hatten wegen der wachsenden Kritik am vergangenen Dienstag unabhängig voneinander jeweils einen sogenannten „Expression of Concern“ veröffentlicht. Die Publikation müsse erneut geprüft werden, und die Studienergebnisse sollten nur unter Vorbehalt betrachtet werden, hieß es darin.

Weil eine solche unabhängige Prüfung offenbar nicht möglich war, haben die Autoren die Publikationen nun zurückgezogen. „Surgisphere stelle die vollständigen Daten den Gutachtern nicht zur Verfügung, weil sie damit die ihren Kunden zugesicherte Vertraulichkeit verletzen würden“, heißt es dazu.

„Es ist in der Tat sehr ernüchternd, dass diese Unstimmigkeiten weder im Peer Review, noch im editoriellen Prozess der Journale aufgefallen sind. Gerade bei so hochrangigen Zeitschriften wie ‚The Lancet‘ und dem ‚NEJM‘ sollte so etwas nicht vorkommen“, kommentiert Professor Jörg Meerpohl, der Direktor des Instituts für Evidenz in der Medizin an der Universität Freiburg den Sachverhalt.

Studien wegen medialen Drucks gestoppt

In einer Mitteilung des Science Media Centers (SMC) betont er weiter: „Besonders dramatisch finde ich, dass dies bei Studien passiert ist, von denen klar war, dass sie eine so große Bedeutung für das Management der Pandemie weltweit haben. Hier hätte ich 200-prozentige Sorgfalt erwartet.“

Der Schaden ist groß: Aufgrund der zurückgezogenen Studien „wurde in laufenden Studien die Behandlung mit Cloroquin/Hydroxychloroquin pausiert beziehungsweise Studien ab gebrochen“, erinnert Mehrpool.

Das gilt unter anderen für Teile der WHO-Studie SOLIDARITY sowie zwei deutsche Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit der Malariamittel bei COVID-19. Diese Studien werden allerdings bereits wieder weitergeführt, weil sich dort bisher – anders als in der zurückgezogenen Studie – keine Sicherheitsbedenken ergeben hätten.

Was passiert mit den Metaanalysen?

Die womöglich unseriösen Daten haben zudem bereits Eingang in weitere Analysen zur COVID-19-Therapie gefunden. So werden die Ergebnisse der am 22. Mai publizierten und jetzt zurückgezogenen Hydroxychloroquin-Studie bereits in 20 weiteren Studien zum Thema zitiert, wie eine eigene Internet-Recherche ergeben hat.

Die Arbeit zu ACE-Hemmern und Sartanen bei COVID-19 aus dem „New England Journal of Medicine“ wurde bis dato gar von 111 Arbeiten zitiert. Unter den Fundstellen sind allerdings viele noch nicht begutachtete Arbeiten, die auf Preprintservern veröffentlicht wurden.

Welche Auswirkungen das hat, zeigen zwei Beispiele: Die Autoren einer Metaanalyse berichten zum Beispiel, dass sich eine erhöhte Sterberate bei COVID-19 unter Hydroxychloroquin-Therapie nur finden ließ, wenn die Lancet-Studie in die Auswertung einbezogen wurde (medRxiv 2020.04.14.20065276).

Und in einem Review-Artikel wird die Lancet-Studie als Beleg der „aufkeimenden (emerging) Evidenz für ein deutlich erhöhtes Arrhythmie-Risiko bei COVID-19 angeführt (Trends Cardiovasc Med 2020; online 28. Mai).

Es wird lange dauern, bis solche offensichtlich falschen Schlüsse aus der Welt geschafft sind.

Ihr Newsletter zum Thema
Mehr zum Thema

Zwischenbilanz beim Forschungsprojekt

Ein Jahr Post-COVID-Bus in Thüringen – bislang 345 Patienten in Studie

Neurologen-Kongress

Post-COVID-Therapie: Von der Forschung in die Praxis

Das könnte Sie auch interessieren
Umgang mit Multimorbidität in der Langzeitpflege

© Viacheslav Yakobchuk / AdobeStock (Symbolbild mit Fotomodellen)

Springer Pflege

Umgang mit Multimorbidität in der Langzeitpflege

Anzeige | Pfizer Pharma GmbH
COVID-19 in der Langzeitpflege

© Kzenon / stock.adobe.com

Springer Pflege

COVID-19 in der Langzeitpflege

Anzeige | Pfizer Pharma GmbH
Die Chancen der Vitamin-C-Hochdosis-Therapie nutzen

© Pascoe pharmazeutische Präparate GmbH

Vitamin-C-Therapie

Die Chancen der Vitamin-C-Hochdosis-Therapie nutzen

Anzeige | Pascoe pharmazeutische Präparate GmbH
Medizinischer Infusions-Tropf mit buntem Hintergrund

© Trsakaoe / stock.adobe.com

Hochdosis-Therapie

Vitamin C bei Infektionen und Long-COVID

Anzeige | Pascoe pharmazeutische Präparate GmbH
Maximale Vitamin-C-Blutspiegel nach oraler (blau) und parenteraler (orange) Tagesdosis-Gabe.

© Pascoe pharmazeutische Präparate GmbH

Vitamin-C-Infusion

Parenterale Gabe erzielt hohe Plasmakonzentrationen an Vitamin C

Anzeige | Pascoe pharmazeutische Präparate GmbH
Kommentare
Von der Grundlagenforschung zu wegweisenden Therapien

© Alnylam

Pionier der RNAi-Technologie

Von der Grundlagenforschung zu wegweisenden Therapien

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Alnylam Germany GmbH, München
Dr. Antigone Fritz und Hubertus Müller sitzen trocken am PC. Dort zu sehen: ein Bild vom Hochwasser in Erftstadt vor drei Jahren.

© MLP

Gut abgesichert bei Naturkatastrophen

Hochwasser in der Praxis? Ein Fall für die Versicherung!

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: MLP
Abb. 1: Zeitaufwand pro Verabreichung von Natalizumab s.c. bzw. i.v.

© Springer Medizin Verlag GmbH, modifiziert nach [9]

Familienplanung und Impfen bei Multipler Sklerose

Sondersituationen in der MS-Therapie

Sonderbericht | Mit freundlicher Unterstützung von: Biogen GmbH, München
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Silouetten von Menschen in unterschiedlichen Farben.

© tydeline / stock.adobe.com

SAID, SIDD, SIRD, MOD und MARD

Das steckt hinter den fünf neuen Diabetes-Subtypen

Organ wird bei OP entnommen

© horizont21 / stock.adobe.com

Vom Opt-in zum Opt-out

Studie: Widerspruchslösung erhöht Organspende-Zahlen nicht