Ungewöhnliche Praxis
Wenn der „Ärztliche Bahnhofsvorstand“ ins Behandlungszimmer ruft
Im Harsdorfer „Gesundheitsbahnhof“ dreht sich alles um Eisenbahnen: Rezepte kommen auf Schienen, ein Bahnsignal zeigt an, ob die Praxis geöffnet ist und das Wartezimmer ist mit ICE-Sitzen ausstaffiert.
Veröffentlicht:Harsdorf. „Wir sind keine Attraktion, eher ein Unikat“, sagt Dr. Jürgen Berthold Bauer, Allgemeinmediziner in der 1000-Einwohner-Gemeinde Harsdorf im oberfränkischen Landkreis Kulmbach. Und eine Touristenattraktion: So war eigens eine Besuchergruppe aus Chemnitz angereist, nur um Minuten lang neugierig übers Gelände zu streifen und Bauers Arztpraxis durch die Fenster zu inspizieren. Nur um anschließend wieder abzufahren. Doch ob nun Attraktion oder Unikat: Besonders ist der „Gesundheitsbahnhof“, wie er auch in großen Lettern auf dem Gebäude tituliert ist, allemal.
Denn der Harsdorfer Hausarzt, der Emails gerne mit „ärztlicher Bahnhofsvorstand“ und einem Lach-Smilie signiert, hat seit Jahrzehnten zwei große Leidenschaften: Schon als Kind war er erst von seinem Kinder- und später von seinem Hausarzt so beeindruckt, dass er in deren berufliche Fußstapfen treten wollte. Und auch das „Bahnvirus“ habe ihn bereits als Kleinkind infiziert.
Losgegangen sei es mit der Märklin-Modellbahn seines Onkels, erzählt der Oberfranke. Als sein Vater ihm dann mit fünf Jahren eine erste elektronische Eisenbahn schenkte, sei das wie eine Boosterimpfung gewesen. Wie viele Modelleisenbahnen Dr. Bauer heute besitzt, kann er längst nicht mehr sagen.
Der Dachboden sei voll. Und die Praxis im „Gesundheitsbahnhof“ ebenso.Vor acht Jahren tat sich für den Hausarzt die Chance auf, seine beiden großen Leidenschaften miteinander zu kombinieren und eine Praxis im Harsdorfer Bahnhofsgebäude einzurichten.
Ein Wartezimmer 1. Klasse
Im unmittelbar angrenzenden einstigen Stellwerksgebäude befindet sich heute das Wartezimmer. Die Patienten sitzen hier nicht auf gewöhnlichen Stühlen, sondern können es sich in ICE-Sitzen der 1. Klasse gemütlich machen. Die Deutsche Bahn hatte die Sitze kostenlos überlassen und per Sattelschlepper nach Harsdorf transportiert.
Zwischen klassischen Publikumszeitschriften liegt auch der „Eisenbahn Kurier“. Er habe enge, sterile Wartezimmer immer schon gehasst, betont Bauer. Wohlbefinden beim Arzt sei bereits die halbe Diagnostik und Therapie. Vor der Pandemie durften Patienten auch schon mal entspannt einen Kaffee im alten Stellwerksraum trinken.
Außergewöhnliche Arztpraxis
Wo Eiskönigin Elsa Zähne bohrt
Überall in der Praxis finden sich alte Züge und Waggons, eine Schaufensterpuppe trägt Schaffnerkleidung. Vom Empfang bis in den hintersten Behandlungsraum und wieder zurück fährt auf einer Strecke von rund 25 Metern eine Modelleisenbahn und transportiert Rezepte, Impfstoffdöschen oder auch Süßigkeiten für Kinder.
Und auch vor der Praxis werden Patienten stilgerecht eingestimmt: Die Deutsche Bahn überließ dem „medizinischen Bahnhofsvorstand“ ein historisches Flügelsignal aus den 50er Jahren, das anzeigt, ob die Praxis geöffnet ist oder nicht. Wo Bahnmitarbeiter einst Hand am Seilzug anlegen mussten, um das Signal zu bedienen, braucht Bauer dank einer Spezialanfertigung mit elektronischen Antrieb morgens nur aufs Knöpfchen drücken. Die Weichen stehen dann auf gesund.
50 Jahre kein Hausarzt in Harsdorf
Doch wie wird man „ärztlicher Bahnhofsvorstand“? Der 59-Jährige ließ sich 2001 als Hausarzt zunächst in Thurnau, dann in Kulmbach nieder. Im kleinen Harsdorf gab es gleichzeitig seit mehr als 50 Jahren keinen Hausarzt mehr. Die Kommune wollte dies ändern, nahm Kontakt zu Bauer auf, doch scheiterte das Projekt zunächst an fehlenden Räumlichkeiten. Anfang 2013 kam das Angebot von Bürgermeister Günther Hübner in den Harsdorfer Bahnhof einzuziehen.
Seit 1854/55 führt die Bahnstrecke durch das oberfränkische Örtchen, schon 1856 wurde dort ein erster Bahnhof errichtet. Um 1900 wurde dieser durch ein neues Empfangsgebäude ersetzt, rund 30 Jahre später entstand unmittelbar am Gebäude ein Stellwerk. Heute steht der Harsdorfer Bahnhof unter Denkmalschutz, Züge stoppen nach wie vor, doch das Gebäude selbst war lange ungenutzt.
Schließlich erwarb die Gemeinde das Objekt am weiterhin aktiven Streckenabschnitt – und Hausarzt Bauer kündigte an: „In Harsdorf machen wir was Besonderes. Auch um jungen Kolleginnen und Kollegen zu zeigen, was mit ein bisschen Kreativität in Landgemeinden möglich ist.“
Die Vision eines „Gesundheitsbahnhofs“
Die Idee zu einem „Gesundheitsbahnhof“ hatte Bauer schon seit einigen Jahren gesponnen, in Harsdorf passte sie wie die Faust aufs Auge. Das Gebäude wurde saniert und um einen modernen Treppenhaus- und Aufzugsturm erweitert. Das marode Stellwerk wurde in Absprache mit dem Denkmalschutz abgerissen und am historischen Stellwerk orientiert neu aufgebaut.
Die Gesamtkosten betrugen rund 1,1 Millionen Euro, rund 300.000 Euro entfielen davon auf die Gemeinde, die übrigen Kosten konnten über staatliche Fördermittel gedeckt werden. Neben der Hausarztpraxis befinden sich im Bahnhofsgebäude i eine Physiotherapiepraxis sowie zwei behindertengerechte Wohnungen.