Aufklärung
50 Jahre Sexualkunde an Schulen
Vor 50 Jahren erschien mit dem Sexualkunde-Atlas das erste westdeutsche Schulbuch zum Thema. Heute ist Aufklärung im Biounterricht selbstverständlich. Reicht das?
Veröffentlicht:BERLIN. Die Geschichte von Bienchen und Blümchen. So sah Sexualerziehung in Deutschland oft noch bis in die 1960er Jahre aus – wenn es sie überhaupt gab. Dann begann eine kleine Revolution.
Vor 50 Jahren, am 10. Juni 1969, erschien der Sexualkunde-Atlas. In der Bundesrepublik war er das erste offizielle Schulbuch zum Thema Aufklärung. Seitdem hat sich in Wellenbewegungen eine Menge getan. Luft nach oben sehen Sexualpädagogen aber bis heute.
Ein Querformat mit weißem Einband: So unscheinbar kam der Sexualkunde-Atlas, herausgegeben von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), vor 50 Jahren auf den Markt. Auch die bauchig-bunte Grafik auf dem Titelbild ließ nicht ahnen, worum es ging.
Doch schnell wurde das Schulbuch, das es auch im freien Verkauf gab, zum Bestseller. Es war die Zeit der Aufklärungsfilme von Oswald Kolle und der Studentenbewegung, die unter anderem die „freie Liebe“ propagierte.
Für viele Eltern hörte der Spaß auf
Doch Kinder und Teenager aufklären? Für viele Eltern hörte da der Spaß auf. So kam es in Westdeutschland einem Paukenschlag gleich, als die Kultusministerkonferenz 1968 gegen Widerstände einen ersten Erlass zur Sexualaufklärung an Schulen erließ. Die DDR war weniger verklemmt. Sexuelle Bildung stand bereits seit 1959 im Lehrplan.
Auch West-Berlin hatte aus dieser Zeit Regelungen, Hessen seit 1967. „Aber sonst gab es an Schulen im Grunde keine Aufklärung“, sagt die Freiburger Sexualpädagogin und Forscherin Renate-Berenike Schmidt. Sexualerziehung sei meist durch Pfarrer oder Lehrkräfte für Religion geleistet worden.
„Aufklärung stand da nicht im Vordergrund. Es ging um Erziehung zur Schamhaftigkeit“, so Schmidt. Wenn auch die Eltern schwiegen, blieben als Ausweg meist nur Jugendzeitschriften wie die „Bravo“.
Den Atlas sieht Schmidt, die ihre Dissertation über Sexualität in Biologie-Büchern schrieb, im Rückblick als gelungenes Aufklärungsbuch mit sachlichen Texten und Illustrationen. Doch so wertneutral verlief der Unterricht anfangs oft nicht.
An vielen Schulen herrschte eine Stimmung vor, die Teenager und das Thema Sexualität in erster Linie als „Problematik“ sah. Lehrer erinnern sich, wie sie Elternabende einberiefen, um zu erläutern, was sie im Unterricht planten.
In den 1970er Jahren kam ein gesellschaftlicher Umschwung – wohl auch als Reaktion auf die lange Prüderie. Nun stand das Schöne an Sexualität im Fokus. Aber nicht lange.
Die 80er Jahren waren geprägt vom Aids-Schock und Missbrauchsskandalen. „Das war wie ein Rückschlag. Sexualität stand wieder für Gefahr“, sagt Schmidt. Das Positive aus dieser Krisenzeit sei auf lange Sicht eine offenere Diskussion über Homosexualität gewesen.
Bis heute müsse Sexualpädagogik drauf achten, dass sie nicht als reine Gefahrenabwehr-Pädagogik ende, urteilt Schmidt. Zentral seien ein positiver Zugang sowie die Grundidee sexueller Selbstbestimmung.
Sexualpädagogik – auch heute noch kein Thema für Lehrer
„Und wir werden im Unterricht in Zukunft mehr darauf eingehen müssen, dass es nicht nur Hetero- und Homosexualität gibt, sondern einiges dazwischen“, ergänzt sie.
Fest verankert ist Sexualkunde in Sachkunde- und Biologie-Stunden. „Fächerübergreifend ist das Prinzip in der Schule aber mehr oder weniger gescheitert“, bedauert die Wissenschaftlerin.
Noch immer werde Sexualpädagogik auch bei der Lehrerausbildung eher stiefmütterlich behandelt. Nur einige Bundesländer, zum Beispiel Hamburg, greifen das Thema bewusst in Literatur, in Spielfilmformaten oder im Kunstunterricht auf.
Das mag überraschen. Denn die jüngste BZgA-Studie zur Jugendsexualität aus den Jahren 2014/15 belegt, wie wichtig Schule neben dem Elternhaus noch immer für sexuelle Bildung ist. 80 Prozent der befragten Jugendlichen gaben an, ihr Wissen über Sexualität, Verhütung oder Schwangerschaft auch aus dem Unterricht zu haben. Für Jungen war die Schule sogar der wichtigste Lernort dafür.
Beate Proll ist Berichterstatterin für die Kultusministerkonferenz für Gesundheitsförderung und Prävention. Sie hält sexuelle Bildung an Schulen heute sogar für wichtiger denn je.
„Dabei geht es auch darum, geradezurücken, was in sozialen Medien falsch dargestellt wird“, sagt sie. „Und auch immer wieder deutlich zu machen, dass das, was beispielsweise auf Porno-Seiten im Internet oder in anderen Medien zu sehen ist, kein Eins-zu-eins-Abbild von Liebe und Sexualität ist. Und kein echter Orientierungspunkt.“
Einen zeitgemäßen Ansatz von sexueller Bildung sieht sie darin, klassischen Wissenserwerb und soziales Lernen zusammenzudenken. „Es geht zum Beispiel darum, Worte für Gefühle zu bekommen. Und wahrzunehmen, wenn einem Situationen komisch vorkommen und dann darüber zu sprechen.“
Familie und Schule gefragt
Schule könne Kommunikationsräume zu den Themen Liebe, Freundschaft und Sexualität schaffen. „Denn Bilder von gelingender Partnerschaft und Zufriedenheit in der Sexualität sind heute oft medial geprägt und nicht selten mit einem Leistungsgedanken versehen“, berichtet Proll. „Ich muss gut aussehen, ich muss mich posen. Es geht häufig um den perfekten Körper, bis hin zum Intimbereich.“ Teenager setze das unter Stress.
In der heutigen Info-Flut sei es wieder wichtig, einen Kernwissensbestand zu vermitteln, betont Proll, in Hamburg auch Abteilungsleiterin am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung. Da gehe es darum, seriöse Quellen wie die BZgA im Internet zu benennen. Ziel sei es, dass junge Leute später bei der Beziehungsgestaltung handlungsfähig seien. „Das ist auch wichtig mit Blick auf sexuelle Gewalt und die Gestaltung gewaltfreier Partnerschaften.“
Zurzeit beobachtet Beate Proll jedoch eher eine neue Unsicherheit in Sachen Aufklärung– auch bei Eltern. „Und zwar nicht nur bei zugewanderten Paaren oder Menschen mit niedrigem Bildungsgrad“, betont sie. Die Spannbreite sei groß. Während manche Eltern Aufklärung zumindest aus der Grundschule gern wieder verbannen möchten, gingen andere davon aus, dass ihre Kinder heute ohnehin alles durch Medien erführen. „Das ist auch nicht gut. Es bleibt bis heute eine Frage, wie familiäre Aufklärung aussieht und wie Schule das ergänzen kann“, sagt Proll.