Hard-Rock

Ärztliche Versorgung in Wacken

75.000 Hard-Rock-Fans haben Anfang August erneut das kleine Dorf Wacken in Schleswig-Holstein zum Beben gebracht. Das gleichnamige Musikfestival ist auch für die Ärzte eine Herausforderung. Immer wieder retten sie in ihrer improvisierten Zeltklinik Leben.

Christian BenekerVon Christian Beneker Veröffentlicht:
Wacken 2016 - ein Hexenkessel, in dem 75 000 Hard-Rock-Fans wild feiern.

Wacken 2016 - ein Hexenkessel, in dem 75 000 Hard-Rock-Fans wild feiern.

© Julien Reynaud / APS-Medias / Abacapress.com

WACKEN. Auf dem Festivalgelände im schleswig-holsteinischen Dorf Wacken beginnt es zu nieseln.

Anfang August findet hier alljährlich das "Wacken Open Air" (WOA) statt, eines der weltweit größten Hard-Rock-Festivals.

Die unzähligen Buden und Bühnen der Veranstaltung stehen da, wo sonst das Milchvieh der Wackener Bauern grast. Das Sauwetter gehört dazu wie die martialischen Tattoos der Fans und Bier in Strömen.

Zehntausende krauser Hard-Rock-Gestalten wanken über aufgeweichte Wiesen.

Es riecht nach gegrillten Würstchen, die Sound-Checks von den Bühnen dröhnen mit atemberaubend wummernden Bässen herüber.

Gut 75.000 der "Metalheads" aus der ganzen Welt amüsieren sich hier fünf Tage zur Musik von Bands, die "A Bullet For My Valentine" heißen, "Heaven Shall Burn", "Hämatom" oder "Iron Maiden".

Leuchtender Stierkopf

Nur ein Viertel aller Gäste war weniger als 700 Kilometer unterwegs, um hier zu sein. Eine riesige Bühne ragt an der Stirnseite des "Infields" in den Himmel, dem Bereich, in dem Zehntausende von Fans vor der Hauptbühne stehen werden.

Gekrönt wird sie von der schwarzen Silhouette eines Stierschädels - dem Symbol der Hard-Rock-Schlammschlacht. Und wenn "Iron Maiden" spielt, eine Größe der Szene, benannt nach dem mittelalterlichen Folterwerkzeug der "eisernen Jungfrau", wird der Stierkopf von ein paar flackernden Fackeln erleuchtet werden.

Notarzt und ärztlicher Leiter im Sani-Zelt, Dr. Sandu Deunert, ist präpariert. Wenn dann beim Konzert die kräftigen Jungs von der Security die Crowdsurfer auffangen, die von der Masse auf ihren Händen nach vorn zur Bühne getragen wurden, "dann sind wir auch da und gucken vor Ort, wer fertig ist und wer weitermachen kann", sagt Deunert.

"Sie sind entweder okay und haben ihren Spaß. Oder sie sind zum Beispiel zusammengeklappt und wurden deshalb von der Menge als Patienten nach vorne durchgereicht." Dann geht es ab ins Sanitätszelt.

Wüst sehen viele der potenziellen Patienten aus: Schwer gepierct und tätowiert, die Herren gern im Kilt oder im knöchellangen Ledermantel, die Damen im sehr kleinen Schwarzen. Hauptsache schwarz. Aber die tun nichts, die wollen nur spielen, meint Dr. Hermann Brands, Hausarzt und selber Metalhead: "Man erlebt selten eine so friedliche und hilfsbereite Gemeinschaft."

Heilsamer Ausstieg aus dem Alltag

Der beschauliche Ort Wacken wächst während des Festivals zur drittgrößten Kommune Schleswig Holsteins nach Kiel und Lübeck heran, zu einer Zeltstadt, bewohnt von rund 100.000 feierwütigen Menschen.

Tatsächlich bedeutet das Wacken Open Air für viele offenbar den heilsamen Ausstieg aus ihrem wohlgefügten Alltag. 60 Prozent der Besucher haben Abitur oder Fachhochschulreife. Aber sie sitzen nicht hinter ihren Computern. "Wackään!", brüllen sie sich stattdessen zu und stemmen ihre Biere in die Höhe. "Wackääääääään!".

Der Ort trägt es mit Fassung. Man verkauft Gummistiefel und Kaffee und Kuchen für 1,50 Euro, als wäre das Ganze das örtliche Schützenfest. Für die medizinische Versorgung der Festivalbesucher ist die Rettungsdienst-Kooperation Schleswig Holstein (RKiSH) zuständig, der deutschlandweit größte kommunale Rettungsdienst.

Das medizinische Team vor Ort besteht aus rund 150 Mitgliedern - darunter zwölf Notärzte, dazu Notfallsanitäter, Rettungsassistenten, Krankenschwestern - und Pfleger. Außerdem aus einer Handvoll Auszubildenden, die den Ernstfall kennenlernen sollen.

Bis zu 4000 Patienten versorgt das Team im Laufe eines Festivals. Manpower ist hier also auch nötig. Ihr Zelt mit 18 Behandlungsplätzen, einer Ausnüchterungsabteilung, vier Intensivbetten, einer Apotheke und zwei Bierbänken als Wartezimmer steht gleich bei der Polizei und den Seelsorgern.

Engländer mit irgendetwas im Ohr

An diesem Tag behandeln die Ärzte eine junge Frau mit verrenkter Schulter, einen Engländer mit grünen Haaren und irgendetwas im Ohr, einen über und über tätowierten jungen Mann, der sich "mit einem Tisch angelegt" hat, wie er sagt, ohne das weiter auszuführen, und drei Betrunkenen, die bei Onkel Erwin ihren Rausch ausschlafen. Onkel Erwin?

Erwin Andresen, der diesen Spitznamen trägt, ist die gute Seele und sozusagen die Nachtwache aller vom Alkohol Gefällten. Im Moment liegen in der Ausnüchterungs-Abteilung des pensionierten Rettungssanitäters drei Patienten, die dringend Schlaf brauchen.

Onkel Erwin "schnackt" so wenig wie seine Kunden. Er setzt sich zu ihnen ans Feldbett. "Na, alles klar?", fragt er. Eine gebrummte Antwort, das war‘s. "Wenn das Festivalgelände voll wird, geht es hier richtig zur Sache", sagt Andresen.

In der Tat ist der Alkohol einer der wesentlichen Gründe, sich in Wacken vom Metalhead in einen Patienten zu verwandeln. "Gesoffen wird ordentlich, ohne Frage", sagt Deunert lakonisch.

"Aber das Festival ist älter geworden. Die Leute kennen jetzt eher ihr Maß." Allerdings lag das Durchschnittsalter der Besucher laut einer Umfrage der Veranstalter aus dem Jahr 2015 bei 27,2 Jahren.

Wenn es ernst wird, ist aber nicht nur der Alkohol selbst das Problem. Sondern es drohen "Austrocknung und Unterkühlung". Inzwischen habe man mit dem Veranstalter vereinbart, auf dem Gelände kostenlos Wasser anzubieten, damit die vom Alkohol ausgetrockneten Besucher trinken können. "Seither sind die Infusionen bei uns deutlich zurückgegangen", sagt Deunert.

Und weil der norddeutsche Sommer selten wirklich warm ist, droht denen, die ihren Rausch auf der Wiese ausschlafen, Unterkühlung. "Ein Riesenproblem", sagt Deunert.

"Nachts haben wir hier manchmal nur fünf Grad. Dann suchen wir den ganzen Zeltplatz ab. In den letzten Jahren haben wir etliche schwerst Unterkühlte gefunden und versorgen können." Die Zeltstadt aus den Kuppelzelten der Fans dürfte vier Mal so groß sein wie das Festivalgelände.

Eine eigene Leitstelle

Überall auf dem Gelände sind kleine Einsatzteams mit Tragen unterwegs, die auf zwei große, geländegängige Räder montiert sind, berichtet Koordinator Jürgen Schumacher.

Sie bringen die Patienten, die nicht mehr laufen können, ins Sani-Zelt. Mitten im Containerdorf steht eine eigene Leitstelle. Die Festival-eigenen Notrufe vom Gelände laufen hier ein. Von hier koordinieren Rettungsassistent Markus Emmel und Notarzt Dr. Fabian Sievers die Einsätze der Teams.

Und gefährlich wird es auch, wie sich zeigt. Ein junger Mann, aschgrau mit Übelkeit und Rückenschmerzen, schleppte sich eben ins Zelt, berichtet Deunert. Nach dem EKG war klar, dass der 30-Jährige einen Herzinfarkt erlitten hat.

"Wir haben ihn mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus nach Itzehoe gebracht." Rund um das Zelt stehen zehn Rettungswagen bereit und drei Noteinsatzwagen. "Jedes Jahr haben wir einen Patienten in Wacken, der heute noch lebt, weil wir da waren", sagt Deunert.

Im Übrigen haben es die Ärztinnen und Ärzte mit allem zu tun - von der Pille danach, über Schnittverletzungen, weil viele Fans barfuß im Modder laufen, Husten, Schnupfen, Blasenentzündungen, bis hin zu Reanimationen nach Herzinfarkten und schweren Brandverletzungen, weil die hungrigen Hardrocker ihren Grill mit Benzin anzünden wollten.

Die Jobs in der medizinischen Versorgung sind begehrt. Kein Wunder. Denn jeder, den man im Team fragt, rühmt die blendende Stimmung bei der Arbeit.

Kreislauftabletten für Oma Meier

"Hier gibt es keine Hierarchien, keine Hindernisse in der Kooperation", schwärmen die Teammitglieder unisono. Toll sei auch, wie hier Haupt- und Ehrenamtliche zusammenarbeiten, sagen sie.

So wie die Fans aus ihrem Alltag aussteigen, tun es auch die Sanitäter und Ärzte. Wacken sei während der Festival-Tage denn auch der medizinisch am besten versorgte Ort Deutschlands, sagt Deunert.

Und das gelte nicht nur für die Metalheads. "Im Zweifel fährt einer von uns Notärzten auch in den Ort, wenn Oma Meier ihre Kreislauftabletten braucht."

Arzt und Metalfan: Auch mal loslassen!

Dr. Hermann Brands aus Berge bei Osnabrück ist Hausarzt - und ein glühender Hard-Rock-Fan. Im Interview mit der "Ärzte Zeitung" berichtet er, warum er in Wacken regelmäßig "die Sau raus" lässt - und was seine Patienten über sein Hobby denken.

Das Interview führte Christian Beneker

Ärzte Zeitung: Dr. Brands, eine Deutsche Band aus der Metal-Steinzeit heißt Die Böhsen Onkelz.

Dr. Hermann Brands ist Arzt und Metalfan.

Dr. Hermann Brands ist Arzt und Metalfan.

© Christian Beneker

Bekommen Ihre Patienten es nicht mit der Angst, wenn sie erfahren, wofür sich ihr Hausarzt in seiner Freizeit begeistert?

Dr. Hermann Brands: Ich bin zum neunten Mal hier in Wacken. Meine Patienten fragen mich durchaus. Nicht wenige wünschen mir sogar viel Spaß und besseres Wetter.

Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass der eine oder andere auch denkt: Das ist doch ein bisschen bekloppt!

Das muss man ertragen.

Brands: Genau. Und die Patienten verlassen mich ja deswegen nicht. Sie sind meistens anhänglich.

Warum kommen Sie nach Wacken? Weil es hier Bands gibt, die "Hämatom" heißen?

Brands: Nein. Für mich ist der Festivalbesuch sozusagen eine Maßnahme zur Verbesserung der seelischen Gesundheit. Hier kann ich aus allen meinen Rollen herausfallen, ohne dass es zum Problem wird.

Man kann einfach mal unrasiert und mit schlammigen Füßen über den Platz laufen. Es tun ja alle. Die Metal-Szene ist eine große Community, die miteinander sehr rücksichtsvoll ist. Man muss aber auf der anderen Seite keine Klischees erfüllen.

Und dann hört man auch noch die gleiche Musik. Es verbindet ja sehr, wenn man mit 30.000 Fans vor der Bühne steht und Iron Maiden hört.

Wacken ist also eine Bühne für Leute, die das Klischee erfüllen von der harten Schale und dem weichen Kern?

Brands: Das kann man so deuten. Die Leute hier sehen ja auch aus, als könnten sie kleine Kinder klauen. Tun sie aber nicht. Das sind zum großen Teil sehr sensible und feinfühlige Menschen.

Und entspannt. Denn man braucht schon eine Menge Entspanntheit, um sich so präsentieren zu können. Und wer zu viel Bier trinkt und umfällt, den fangen viele Hände auf. Keiner bleibt liegen.

Hier darf der Doktor seine professionelle Verantwortung ablegen.

Brands: Ich finde ja, ein Arzt sollte überhaupt mal Verantwortung abgeben und nicht immer gegen den Strom schwimmen, sich nicht ständig exponieren.

Dann geht es ihm viel besser. Für mich gehört es zu einer ausgeglichenen seelischen Verfassung, auch mal die Rolle des Arztes zu verlassen.

Treffen sie Ärzte unter den Fans?

Brands: Oh, ja. Jetzt bin ich mit einem Kollegen hier, mit dem ich im Krankenhaus gearbeitet habe, er ist jetzt Psychotherapeut.

Ich war im letzten Jahr auch schon mit meinem Praxiskollegen in Wacken.

Einer der Wahlsprüche der Wackenfans lautet: "Nur Luschen duschen!" Sie kommen auch mit ihrem kleinen Kuppelzelt und einem paar Klamotten bei solidem Landregen hier her, und das schreckt sie nicht?

Brands: Nein, das schreckt mich nicht. Ich komme zwar schon mit einem etwas größeren Zelt hierher, aber in der Sache haben Sie recht.

Ich wäre, glaube ich, fast enttäuscht, wenn es nicht auch solche Herausforderungen gäbe.

Wenn es Wacken auf Rezept gäbe, wem würden sie es verordnen?

Brands: Vor allem Patienten, die gezwungen und in ihren Strukturen gefangen sind, die sich nicht trauen, die sich viele Gedanken darüber machen, was wohl andere denken - denen würde ich drei Tage Wacken empfehlen.

Kassenrezept oder privat?

Brands: Das muss man sich selber gönnen dürfen. Das würde ich nicht als Kassenleistung verordnen.

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