Schulgesundheitsfachkräfte
Den Diabetes im Schulranzen stets dabei
Die Forderung ist nicht neu, hat aber an Bedeutung nichts eingebüßt, betonen Medizinische Fachgesellschaften mit Blick auf die bundesweite Implementierung von Gesundheitsfachkräften an Schulen. Auch Lehrervertreter machen sich stark für das Angebot.
Veröffentlicht:Montagmorgen, irgendwo an einer Grundschule in Deutschland. Paul, nennen wir ihn einfach so, sieben Jahre, zweite Klasse, aufgeweckter Junge, macht gut im Unterricht mit, leidet an Diabetes Typ 1. Als Ärzte die Diagnose stellten, änderte sich für Paul und seine Familie vieles. Auch der Schulalltag.
„Wenn Kinder an einem Diabetes erkranken, müssen sie von heute auf morgen regelmäßig Blutzuckerkontrollen durchführen, regelmäßige Insulininjektionen verabreichen, das Essen, körperliche Bewegung und die Insulindosierung aufeinander abstimmen“, sagt Professor Andreas Neu, Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und Diabetologe am Universitätsklinikum Tübingen.
Im Grundschulalter seien viele der betroffenen Kinder mit den genannten Aufgaben überfordert. „Allein die Bewertung einer Zahl, die den Blutzucker reflektiert, stellt die Kinder vor große Herausforderungen: Kann ich problemlos essen, wenn mein Blutzucker zum Mittagessen bei 167 liegt? Welche Insulindosierung passt zu diesem Wert?“
Überforderte Kinder, überfordertes Schulsystem
Da Kinder bedingt durch die zunehmende Ganztagsbetreuung immer mehr Zeit in der Schule verbrächten, stelle sich auch die Frage immer stärker, wie sie dort mit ihrer Diabeteserkrankung zurechtkommen, sagt Neu. Überfordert seien aber nicht nur die Kinder, „überfordert ist auch das Schulsystem. Lehrerinnen und Lehrer haben primär andere Aufgaben als die Versorgung im gesundheitlichen Bereich.“
Schulsozialarbeiter könnten die Lücke auch nicht füllen. Schülerinnen und Schüler, die zu Schulsanitätern ausgebildet seien, könnten womöglich noch eine Wunde versorgen, jedoch nicht das Behandlungsregime bei einem Typ-1-Diabetes steuern.
Und die Mütter und Väter der Kinder? „Telefonische Konsultationen mit den Eltern sind machbar, aber aufwändig und risikoreich“, antwortet Neu – und wiederholt daher eine Forderung, die die DDG und andere Fachgesellschaften seit langem erheben: die Implementierung von Schulgesundheitsfachkräften – in einem ersten Schritt zumindest für alle Kinder im Grundschulalter.
Woanders längst Realität
In Teilen von Skandinavien seien solche Fachkräfte im Einsatz, so Neu. Die Modelle seien unterschiedlich ausgestaltet, in aller Regel versorge eine Schulgesundheitsfachkraft rund 700 Kinder, rechnet der Diabetologe vor. Auch in Deutschland habe ein Pilotprojekt in Hessen und Brandenburg gezeigt, dass Schulgesundheitsfachkräfte viele, nicht nur ökonomische Vorteile mit sich brächten.
Tatsächlich geht aus einer Stellungnahme der Technischen Hochschule Mittelhessen hervor, dass sich im Zuge des Modells in beiden Bundesländern Rettungswageneinsätze deutlich reduzieren ließen. An Gymnasien in Hessen konnten die RTW-Einsätze um 46 Prozent, an dortigen Gesamtschulen um mehr als 60 Prozent gesenkt werden. Ähnlich positiv fielen Werte in der Mark aus: An Brandenburger Grundschulen sanken die RTW-Einsätze um 16 Prozent, an den Oberschulen um 13 Prozent.
Zur notwendigen Zahl der Schulgesundheitsfachkräfte gibt die Hochschule auch eine klare Empfehlung ab. Mit Verweis auf den Einsatz von „School Nurses“ in anderen Ländern, wo die Betreuungsschlüssel zwischen 1:600 (Schweden und Finnland) und 1:1025 (Australien) liegen, raten die Wissenschaftler und das Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Charité für Deutschland zu einem Schlüssel von 1:700.
Schlüssel von 1:700 wäre optimal
Trotz all solcher Vorteile: Brandenburg hat das Modellprojekt Ende 2021 aus Geldgründen eingestellt. Hessen hält daran fest – wenn auch auf kleinem Nenner: Rund 20 Schulgesundheitskräfte sind zwischen Kassel und Frankfurt unterwegs. Unter ihnen ist auch Karen Kreutz-Dombrofski, die zuvor 30 Jahre als Kinderkrankenschwester tätig war.
Etwa 1200 Kinder und Jugendliche betreut die Schulgesundheitsfachkraft derzeit an einer integrierten Gesamtschule bei Frankfurt. Die Kinder nennen sie liebevoll Schulkrankenschwester. Alle wüssten, wo ihr Raum in der Schule liegt, sagt Kreutz-Dombrofski. Auch für Lehrer und Eltern ist sie Ansprechpartnerin bei Gesundheits- und Krankheitsthemen.
Durchweg positive Erfahrungen
Mal werde wegen einer Corona-Maske nachgefragt, mal wegen einer Erkältung „und ob das schon Corona ist“. Von der Prävention über die Anleitung im Umgang mit chronischen Krankheiten wie etwa Diabetes bis hin zur Akutversorgung übernehme sie zahlreiche Aufgaben an der Schule.
Ihre Erfahrung als Schulgesundheitsfachkraft nach fünf Jahren sei durchweg positiv: Viele Eltern, auch die von an Diabetes erkrankten Kindern und Jugendlichen, geben die Verantwortung für den Umgang mit der Erkrankung während der Schulzeit gerne an eine geschulte Fachkraft ab.
„Vorrangige Aufgabe der Schulgesundheitsfachkräfte ist die konkrete Hilfestellung im Umgang mit Diabetes und anderen Erkrankungen im Schulalltag“, betont der Hamburger Diabetologe und Vorstandsvorsitzende von diabetesDE – Deutsche Diabetes Hilfe, Dr. Jens Kröger.
Der Bedarf nach einem solchen Angebot, das Schüler unterstützte und Lehrer wie Eltern entlaste, wachse stetig, sagt Kröger. Aktuell erkrankten in Deutschland im Jahr etwa 3500 Kinder und Jugendliche neu an Diabetes Typ 1 – immer mehr von ihnen im Vorschulalter.
Entlastung für alle
Lehrervertreter schließen sich dem Ruf nach Schulgesundheitsfachkräften inzwischen an. Vor allem chronisch kranke Kinder und Jugendliche könnten profitieren. Um Einzelfälle handele es sich dabei nicht, sagt der Bundesvorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE), Udo Beckmann. „Aktuell benötigt fast ein Viertel der Kinder eine weitergehende medizinische oder therapeutische Unterstützung“, berichtet Beckmann.
Daher könnten außer Schülern auch Lehrkräfte vom Einsatz der Schulgesundheitsfachkräfte profitieren, wie sie DDG und die Selbsthilfevereinigung diabetesDE seit Jahren forderten. Die Verantwortung, Kindern mit chronischer Erkrankung wie etwa Diabetes Typ 1 den Schulbesuch zu ermöglichen, könne nicht bei den Lehrkräften liegen, stellt auch Beckmann klar. Die Lehrer übernähmen die Aufgabe zwar „notgedrungen“, seien dafür aber nicht qualifiziert. Überdies bewegten sie sich nicht selten in einer rechtlichen Grauzone.
Bund und Länder stünden in der Pflicht, ein „professionelles Schulgesundheitsmanagement mit dafür ausgebildeten Schulgesundheitsfachkräften zu etablieren und zu finanzieren“. Das trage nicht nur der stetig steigenden Anzahl an chronisch erkrankten Kindern Rechnung, sondern fördere das Gesundheitsbewusstsein von Kindern ganz allgemein.
Baustein für mehr Inklusion
Der Einsatz von Schulgesundheitsfachkräften zahle erheblich auf die Inklusion und Integration von Kindern mit Diabetes Typ 1 in Bildungseinrichtungen ein, sagt DDG-Chef Neu.
Zu oft würden Zuständigkeitsprobleme als Grund angeführt, warum die breite Implementierung des Angebots der Schulgesundheitsfachkräfte scheitere. „Der Bund verweist auf die Länder, die auf die Kommunen.“ Und die Gesundheitsminister zeigten auf die Kultusminister und so weiter und so fort. Dabei zeige der „Digitalpakt Schule“ oder auch das Modell der „Frühen Hilfen“, dass sich etwaige Kompetenzprobleme überwinden ließen, „wenn der politische Wille gegeben ist“, betont der Kinderdiabetologe.
Allein: Im Koalitionsvertrag der Ampel findet sich der Begriff der Schulgesundheitsfachkraft nirgendwo. Diabetes taucht dort lediglich als geplantes Maßnahmenpaket zwischen Maßnahmen gegen Einsamkeit und für mehr Zahngesundheit auf. Inhalte des Pakets bleibt die Ampel bislang schuldig.