Tagebuch eines AiW als Seenotretter

Die letzten Übungen vor dem Einsatz im Mittelmeer – und Pläne für einen MANV

Die Crew des Seenotrettungsschiffs Humanity 1 hat im Mittelmeer die letzten Übungen abgehalten. Im Tagebuch berichtet Jörg Schmid, angehender Facharzt für Allgemeinmedizin, von Look-outs, Sternen und MANV.

Jörg SchmidVon Jörg Schmid Veröffentlicht:
Jörg Schmid an Bord der Humanity 1.

Jörg Schmid an Bord der Humanity 1.

© Judith Büthe / SOS Humanity

Montag, 29. Juli 2024. Das Seenotrettungsschiff Humanity 1 kreuzt im Mittelmeer. Das Team übt für den Einsatz, der in den nächsten Tagen beginnt. Jörg Schmid, auf dem Schiff als Arzt im Care Team, berichtet.

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Die letzten Übungen

Heute melde ich mich vom Achterdeck der Humanity 1, das ist das Deck ganz hinten am Schiff. Wir kreuzen gerade vor Sizilien und bereiten uns vor. Es ist schon dunkel geworden. Gerade findet noch ein Training der RIBs statt. RIBs sind die Schnellboote, die wir mit dabei haben. Wenn wir einen Seenotfall gesichtet haben, setzen wir die ins Wasser und fahren dorthin. Und mit denen brauchen wir natürlich auch ein Nachttraining, weil es jederzeit Seenotfälle geben kann.

Der Ausguck

Seit der ersten Episode ist einiges passiert, von dem ich erzählen will. Ich schaue mir jetzt aber erst einmal das RIB-Manöver an, und um das besser sehen zu können, gehe ich aufs Top Deck. Ich schaue runter, sehe die Leuchten der Schnellboote im Wasser.

Wir haben einiges trainiert mit den Schnellbooten. Die haben die Leute angelandet und an Bord gebracht in den Trainings. Und jetzt frage ich mich natürlich: Wie ist das dann, wenn die echte Leute bringen? Echte Menschen, die gerade den Seenotfall erlitten haben, die vielleicht im Wasser waren, die geflohen sind vor Krieg und Vertreibung.

Das zentrale Mittelmeer, wo unser Einsatzgebiet sein wird, ist immer noch eine der tödlichsten Flüchtlingsrouten, wo sehr, sehr viele Menschen ihr Recht auf Gesundheit und auf Leben nicht eingelöst bekommen, sondern sterben.

Hier auf dem Top Deck machen wir auch die Lock-outs. Das sind Schichten, wo wir uns den ganzen Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang abwechseln und mit Ferngläsern den Horizont absuchen, ob wir Seenotfälle sehen können. Anm. d. Red.: Den Ausguck machen immer zwei Personen gleichzeitig für je 1,5 Stunden, da es rasch ermüdend ist, permanent durch das Fernglas den Horizont abzusuchen.

Es gibt noch viele andere Möglichkeiten, wie wir auf Seenotfälle aufmerksam gemacht werden können, aber oft ist es der Look-out. Der Koordinator, der uns trainiert hat, hat gesagt, und es ist mir hängen geblieben: „Stellt euch vor, ihr wisst, da ist irgendwo jemand da draußen, den ihr kennt, aus der Familie oder Freunde, und ihr wollt den unbedingt finden. Das ist der mentale Ansatz, mit dem ihr da rangehen müsst. So genau müsst ihr schauen.“ Das fand ich richtig krass.

Mit den Sternen navigieren

Hier oben auf dem Top Deck, da haben wir vor einigen Tagen auch ein kleines Teaching vom Captain bekommen, was ganz schön war. Der fährt seit 40 Jahren zur See und hat uns gezeigt, wie man mit Sternen navigiert und wie man rausfindet, wo Norden ist, wo Süden ist und sogar, wie man sich mit einem Sextanten auf der Karte zurechtfinden kann. Das wird natürlich heute nicht mehr genutzt. Wir haben Hightech an Bord, nicht nur GPS, Radar, alle möglichen Systeme, von denen ich überhaupt gar nichts verstehe.

Erst Aufregung, dann Anspannung

Als wir vor einigen Tagen losgefahren sind und Siracusa in Sizilien verlassen haben, war das ein besonderer Moment. Es war Abend, die Sonne ist gerade untergegangen und man hat gemerkt, wie es langsam ruhiger wird im Team, wie die Aufregung zur Anspannung wird, wie die Crew zusammenwächst und wir uns zusammen auf diesen Weg machen. Auf diesen Einsatz.

Auch für MANV und CPR vorbereitet

Wir sind jetzt auch in den letzten Zügen der Vorbereitungen im medizinischen Team. Wir haben einen Haufen Trainings gemacht, auch MANV-Trainings, also Massenanfall von Verletzten. Das kann immer vorkommen, wenn zum Beispiel ein Schiff kentert und wir viele Menschen aus dem Wasser ziehen müssen, die vielleicht nicht schwimmen können oder wir zu spät da sind, um Rettungswesten auszuteilen.

Dafür gibt es auch hier an Bord einen MANV-Plan, also einen Plan dafür, wie wir damit umgehen, wenn wir mit den medizinischen Kapazitäten absolut ans Limit kommen. Da sind dann alle aus dem Team mit beteiligt. Jeder hat seinen Standort, das wird hier hart trainiert.

Wir hatten heute auch schon einmal ein Reanimationstraining unter absoluten Low-resource-Bedingungen. Das war schon ziemlich eindrücklich. Aber ich bin ganz zuversichtlich, dass wir das trotz der eingeschränkten Bedingungen ganz gut hinkriegen.

Die Abläufe sitzen

Und wenn wir bald mit den Trainings fertig sind und alle einzelnen Teams ihr Go geben, dann geht es auch schon los. Dann geben wir eine Ready-for-Rescue-E-Mail raus an die zuständigen Behörden und an alle anderen NGOs, die mit beteiligt sind in der Seenotrettung. Dann fahren wir ins Einsatzgebiet, ins zentrale Mittelmeer, wo wir dann das Beste hoffen, aber das Schlimmste befürchten.

Ich glaube, wir sind für alles vorbereitet. Es ist toll zu sehen, wie professionell die Crew hier arbeitet. Die machen das schon seit vielen Jahren. Die Systeme sind ausgeklügelt, die Abläufe sitzen und trotzdem ist es immer wieder krass zu sehen, wie man in so einem Low-resource-Setting auf einem 60 Meter langen Schiff im Mittelmeer medizinische und Rettungsarbeit doch sehr, sehr gut machen kann.

Und ich bin gespannt, wie es weitergeht. Ich halte euch auf dem Laufenden. Bis dann!

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