Sensibilität gefragt
Diskriminierung bleibt bei Aids ein Kernproblem
Menschen mit HIV fühlen sich immer noch ausgegrenzt und abgewertet – und das, obwohl sie ihre Infektion heute nicht mehr als Einschränkung wahrnehmen.
Veröffentlicht:Berlin. Sie erleben immer wieder Vorurteile, fühlen sich oft hilflos und missverstanden – auch im Kontakt mit niedergelassenen Ärzten: Viele Menschen mit HIV in Deutschland wollen sich nicht outen, sie schämen sich, erleben Schuldzuweisungen, klagen über ein geringes Selbstwertgefühl und werden in ihrem Arbeitsumfeld gemieden.
Besonders schwer haben es Frauen, Menschen die auf dem Land leben oder deren Haut nicht weiß ist. Die Verunsicherung ist groß, obwohl sich ihre Lebensqualität verbessert hat und sie die HIV-Infektion heute praktisch nicht mehr als Einschränkung wahrnehmen.
Auch Interviewer waren HIV-positiv
Das sind Kernergebnisse des Forschungsprojektes „positive stimmen 2.0“, die die Deutsche Aidshilfe (DAH) und das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ ) im vergangenen Jahr nach einer ersten Befragung 2011 zum zweiten Mal initiiert hat. Fast 1000 HIV-positive Menschen berichteten online auf einem Fragebogen über ihre Diskriminierungserfahrungen.
Knapp 500 Menschen mit HIV gaben darüber hinaus in Interviews nach einem standardisierten Leitfaden Auskunft. Das Besondere: Auch die Interviewer waren HIV-positiv. Sie sammelten Stimmen von Betroffenen, die oft eigene Erfahrungen widerspiegelten: „Ich bin ein Mensch und werde reduziert auf HIV. Aber HIV ist nur eine von vielen Facetten von mir“, so ein Teilnehmer der Befragung, der anonym bleiben wollte.
Wie leben HIV-positive Menschen heute? Werden Sie diskriminiert? Wenn ja, wo und wie? Inwiefern ist HIV für sie ein Stigma? Das waren zentrale Fragen des Projekts, das bei seiner Erstauflage 2011 mit einem Ansatz initiiert worden war, der Vergleiche zu den Ergebnissen nur schwer möglich macht (siehe nachfolgende Grafik). Die aktuelle Studie rückt insbesondere die Situation im Gesundheitswesen in den Fokus. In diesem Bereich machen viele Patienten immer noch Erfahrungen, die sie als Diskriminierung erleben.
Zahnmedizinische Behandlung verweigert
16 Prozent der Befragten berichteten zum Beispiel, dass ihnen in den zwölf Monaten zuvor mindestens einmal eine zahnmedizinische Versorgung verweigert wurde. Sie erhielten beim Zahnarzt keinen Termin. Oft wurde Menschen mit HIV auch nur der letzte Termin am Tag angeboten, weil Ärzte und Praxispersonal der Studie zufolge davon ausgehen, dass danach besondere Reinigungsmaßnahmen notwendig seien.
Defizite gab es auch bei der Kommunikation von Untersuchungsergebnissen bei HIV-Patienten: „Der Arzt, der uns diagnostiziert hat, hat es am Telefon gemacht, während ich Auto fuhr, das kann echt richtig nach hinten losgehen“, klagte eine Befragungsteilnehmerin.
25% der Befragten legen ihren HIV-Status bei medizinischen Behandlungen nicht immer offen.
Noch immer berichten HIV-Positive von aus ihrer Sicht überzogenen Vorsichtsmaßnahmen: Sie bekommen etwa beim Klinikaufenthalt eine eigene Toilette zugewiesen oder beim Röntgen trägt das Personal plötzlich Handschuhe.
Nicht selten kommt es auch zum Bruch der Schweigepflicht: In vielen Krankenhäusern werden der Befragung zufolge Akten von HIV-positiven Patienten noch immer gekennzeichnet – oft sichtbar für Dritte. Dies alles, obwohl die normalen Hygienemaßnahmen aus Sicht der DAH völlig ausreichen. Eine Konsequenz: Ein Viertel der Befragten legt seinen HIV-Status nicht mehr immer offen.
Auch mit Blick auf den ambulanten Bereich lässt die Deutsche Aids-Hilfe keine Zweifel: „Patienten werden in ärztlichen Praxen mit Aussagen konfrontiert, die von 1985 stammen könnten und keinerlei Willen erkennen lassen, sich über die Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten zu informieren“.
Gefragt ist Sensibilität
Menschen im Gesundheitswesen müssen viel stärker als bisher für das Thema Diskriminierung von HIV-Patienten sensibilisiert werden, so ein Fazit der Studie. Unsere Untersuchung zeigt klar, dass HIV in unserer Gesellschaft weiterhin mit einem Stigma verbunden ist. Wir brauchen Aufklärung der Bevölkerung zu den positiven Folgen der HIV-Therapie sowie eine mediale Verbreitung vorurteilsfreier Erzählungen vom Leben mit HIV“, betont Dr. Janine Dieckmann, Projektleiterin beim IDZ.
Ein Studienteilnehmer formulierte seine Kritik mit blick auf seinen Alltag sehr drastisch: „Trotz aufgeklärter Menschen und der Tatsache, dass ein Leben mit HIV doch so normal sein kann, herrscht unterschwellig eine Unnormalität. Und das ist verdammt nochmal Scheiße!“