Äthiopien
Feldzug wider den Analphabetismus
Geschätzte 800 Millionen Erwachsene leben weltweit als Analphabeten. Zwei Drittel davon sind Frauen. Auch in Äthiopien haben es Mädchen bei der Schulbildung schwerer als Jungen.
Veröffentlicht:ADDIS ABEBA. Hulumtay Abate erinnert sich noch gut an die Schwierigkeiten, die sie durchgemacht hat, um zur Schule gehen zu können. Sie war vor rund 30 Jahren das erste Kind in ihrem kleinen Dorf im äthiopischen Hochland, das zum Unterricht geschickt wurde.
Sie wollte nicht, wurde aber von ihrem Vater, einem orthodoxen Priester, als ältestes der sieben Kinder dazu gedrängt. "Meine Mutter hat sich dagegen gesträubt, weil sie mich lieber schon jung verheiraten wollte. Das gehört bei uns zur Tradition", sagt Hulumtay.
In Äthiopien sind nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef 61 Prozent der Erwachsenen Analphabeten. Offiziell gilt zwar die Schulpflicht, sie wird jedoch nicht konsequent durchgesetzt.
Schulbesuch wider Willen
Auch Hulumtay wollte lieber ungebildet bleiben - wie alle anderen 100 Dorfbewohner, von denen keiner lesen oder schreiben konnte.
"Die Leute sagten, ich sei faul, weil ich nicht verheiratet war und nicht mit einem Ehemann die Felder beackerte oder Wasser und Feuerholz schleppte." Sie fühlte sich ausgegrenzt und "anders", mit jedem erlernten Buchstaben etwas mehr.
"Ich bettelte meine Eltern an, mit der Schule aufhören zu dürfen, aber mein Vater wollte davon nichts hören", sagt Hulumtay. Er sei ein ungewöhnlicher und weiser Mann gewesen, der verstanden habe, dass Bildung der Schlüssel zu einer besseren Zukunft für die ganze Familie war.
Heute ist sie ihm dankbar für seine Standhaftigkeit. Denn er sollte Recht behalten: Hulumtay hat einen Abschluss von der Universität Bahir Dar und arbeitet mittlerweile selbst als Lehrerin. Erst als Erwachsene hat sie geheiratet und Kinder bekommen.
Denn eines der größten Hindernisse für die Bildung der Mädchen in Äthiopien war lange Zeit die weit verbreitete Tradition der Kinderheirat.
Sie wurde 2001 per Gesetz verboten: Erst mit 18 Jahren dürfen Äthiopier nun den Bund der Ehe eingehen. Die neue Regelung konnte sich zwar vielerorts, aber doch nicht überall durchsetzen.
Die Hilfsorganisation Trampled Rose versucht, in verschiedenen Landesteilen Aufklärung zu betreiben, frühzeitige Hochzeiten zu verhindern und vor allem Mädchen solange wie möglich in Schulen zu schicken.
"Ein gebildetes Mädchen gibt ihr Wissen an die ganze Familie weiter, nicht nur was Lesen und Schreiben betrifft, sondern auch in punkto Hygiene oder Ernährung", sagt Ato Tesfaye, ein Mitarbeiter der Hilfsorganisation. "Zudem erlaubt die Schulbildung es den Heranwachsenden, sich später alles andere selber beizubringen."
Nahrung ist wichtiger als Schule
Ein großes Problem, das oft vergessen wird, ist auch die monatliche Menstruation der Mädchen. "Auf dem Land in Äthiopien haben die Menschen keine Unterwäsche, geschweige denn Binden", erklärt Rebekah Kiser, Leiterin und Gründerin der Trampled Rose.
"Wenn ein Mädchen seine Periode bekommt, bleibt es deshalb generell für die gesamte Dauer dem Unterricht fern." Um Abhilfe zu schaffen, hat ihre Organisation in mehreren Schulen bereits sanitäre Räume eingerichtet, in denen Slips und Binden verteilt werden.
Hinzu kommt die enorme Armut in weiten Landesteilen. Für die 16-jährige Hana, deren Eltern an Aids gestorben sind, war die Nahrungsbeschaffung ein viel wichtigeres Problem als der Besuch einer Schule. "Ich konnte mich überhaupt nicht konzentrieren", sagt sie.
"Meine ganze Energie habe ich darauf verwendet, mir zu überlegen, wie ich wohl an ein Abendessen kommen könnte." Der mehrstündige Fußmarsch zur nächsten Schule wurde immer mühsamer. Zum Lernen fehlte irgendwann die Kraft.
Immerhin, vieles hat sich schon verändert. Die Verantwortlichen haben verstanden, dass speziell die Ausbildung von Mädchen langfristig zu einer Verbesserung der Lebensumstände beitragen wird.
Ato Tesfaye bringt es auf den Punkt: "Schulbildung ist damit vergleichbar, einen kleinen Baum zu gießen und sorgfältig aufzuziehen. Wenn er einmal Wurzeln geschlagen hat, dann kann er wachsen und braucht keine Hilfe mehr." (dpa)