Zum 190. Todestag

Goethes Blatterrose: Neun kritische Tage und Nächte

Den „Faust“ gäbe es heute nicht, wenn der 51-jährige Johann Wolfgang vonGoethe seinem lebensbedrohlichen Gesichtserysipel zum Opfer gefallenwäre. Ein Rückblick auf seinen Gesundheitszustand zum 190. Todestag des Dichters.

Dr. Thomas MeißnerVon Dr. Thomas Meißner Veröffentlicht:
Der Grünspan an Goethes Denkmal in Wien ist nicht annähernd so gefährlich wie dessen tatsächliches Gesichtserysipel, das ihn seinerzeit beinahe das Leben gekostet hat.

Der Grünspan an Goethes Denkmal in Wien ist nicht annähernd so gefährlich wie dessen tatsächliches Gesichtserysipel, das ihn seinerzeit beinahe das Leben gekostet hat.

© photo 5000/stock.adobe.com

Erfurt. Über 82 Jahre alt ist Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) geworden – keine Selbstverständlichkeit zu einer Zeit, in der unter anderem Infektionen rasch tödlich enden konnten. Drei Jahrzehnte vor seinem Todestag, der sich am Dienstag, 22. März, zum 190. Male jährt, sah es für Goethe gar nicht gut aus.

Es beginnt in den ersten Januartagen des Jahres 1801 mit einem sich allmählich verschlechternden „Katarrh“. Dieser wird sich in den folgenden Wochen zu einer lebensbedrohlichen Infektion auswachsen: Auf der linken Gesichtshälfte entwickelt sich bei hohem Fieber eine eitrige, teils Blasen bildende Entzündung, die auf das linke Auge übergreift, so dass Goethe es nicht mehr öffnen kann. Die Entzündung erfasst außerdem Gaumen, Rachen und Kehlkopf, begleitet von einem „Krampfhusten“ und Erstickungsanfällen. Herzog Carl August (1757-1828) hat sofort den Arzt Johann Christian Stark nach Weimar beordert. Goethes Freund Heinrich Voß jun. berichtet: „Stark kam aus Jena – es war am Freitagabend – der erklärte, wenn Goethe bis Sonntag früh lebte, so sei Hoffnung da.“

„Geschwulst der Rose mit Fieber“

Karoline Herder, Frau des Schriftstellers und Philosophen Johann Gottfried Herder, beschreibt eine „Geschwulst der Rose mit Fieber“, das so schnell angestiegen sei, „dass er am 5. und 6. Januar nicht mehr im Bett bleiben konnte, um nicht zu ersticken.“ Die Geschwulst „teilte [...] sich allen Drüsen des Kopfes und Halses mit, das rechte Auge, das sonst gut war, wurde jetzt mit ergriffen.“ Zeitweise ist Goethe benommen oder delirant.

Goethes Freundin Charlotte von Stein (1742-1827) schreibt von einer „Blatterrose“, an der Goethe leide. „Er kann in kein Bett und muss immer in einer stehenden Stellung erhalten werden, sonst muss er ersticken. Der Hals ist verschwollen und dick und voller Blasen inwendig. Sein linkes Auge ist ihm wie eine große Nuss herausgetreten und läuft Blut und Materie heraus.“ Er fantasiere oft, man befürchte eine „Entzündung im Gehirn“.

Er kann in kein Bett und muss immer in einer stehenden Stellung erhalten werden, sonst muss er ersticken. Der Hals ist verschwollen und dick und voller Blasen inwendig. Sein linkes Auge ist ihm wie eine große Nuss herausgetreten und läuft Blut und Materie heraus.

Charlotte von Stein, Goethes Freundin

Neun Tage und Nächte dauert der Zustand an. Erst am 24. Januar kann Goethe sein linkes Auge erstmals wieder öffnen. Die folgenden Wochen und Monate bleibt er angeschlagen. Sein Freund Friedrich Schiller (1759-1805) zweifelt auch nachdem das Schlimmste überstanden ist, dass Goethe in der Lage sein würde, seinen „Faust. Der Tragödie erster Teil“ zu beenden.

Auslöser Streptokokken

Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich bei der Erkrankung um ein bullöses Erysipel, früher als Wund- oder als Blatterrose bezeichnet. Ausgelöst wird es meist durch Streptokokken der Gruppe A, die zum Beispiel über kleine Hautwunden oder Rhagaden in die Haut gelangen, sich ausbreiten und eine Sepsis auslösen können. Binnen Stunden entwickeln sich flächige, scharf begrenzte, überwärmte und geschwollene Hautrötungen mit gespannter Haut, meist an den Beinen, aber auch im Gesicht oder an den Armen, begleitet von hohem Fieber und Schüttelfrost. Manchmal treten Blasen oder Einblutungen auf. Komplikationen sind phlegmonöse oder gangränöse Verläufe.

Erysipele der Kopfregion wie bei Goethe, sollen wegen der im Winter gehäuften Atemwegsinfektionen vor allem in den Wintermonaten auftreten. Komplizierte Verlaufsformen von Gesichtserysipelen gelten heute als selten. Vor der Antibiotika-Ära war das womöglich anders, wenn man weitere Erkrankungsrisiken bedenkt, zum Beispiel Übergewicht und übermäßiger Alkoholgenuss.

Ein starker Esser und Trinker

Goethe war ein starker Esser und Trinker. „Er schöpfte sich immer seinen Teller schrecklich voll Speisen ...“, berichtete zum Beispiel Antonie Brentano (1780-1869). Auch Charlotte von Stein beklagte, wie „entsetzlich dick“ ihr Freund geworden sei. Wein gab es im Hause Goethe bereits zum Frühstück, über den Tag konnten es zwei Liter werden. Ärztliche Empfehlungen sich zu mäßigen, ignorierte er. Abgesehen davon könnte eine der wiederholt von Goethe selbst beschriebenen Halsentzündungen, heftigen Zahnleiden und Atemwegsinfektionen Auslöser des Erysipels gewesen sein.

Johann Stark behandelte Goethe unter der Vorstellung, den Krankheitsherd aus dem Körper ziehen zu müssen. Dazu gehörten damals Aderlässe, blutige Schröpfungen, blasenbildende Umschläge mit Senfsamen oder Cantharis, das Auslösen von Erbrechen sowie Klistiere. Stark hat selbst über dieses Instrumentarium publiziert und dürfte einige dieser Methoden bei Goethe angewendet haben. Umso glücklicher können wir uns heute schätzen, dass der Dichter, Denker und Naturforscher überlebt und uns außer „Faust“ noch ein reichhaltiges Werk hinterlassen hat.

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