Herausforderung für Finger, Augen und Geist
Die Faltkunst Origami ist vielfältig einsetzbar: Als perfektes Training für Senioren oder als Option, um die Konzentrationsfähigkeit hyperaktiver Kinder zu verbessern.
Veröffentlicht:Die Welt hat Platz auf einem Blatt Papier - und es liegt am großen oder kleinen Origami-Meister, ob er daraus einen Tiger hervorspringen oder eine Rose sprießen lässt. Vor 20 Jahren wurde "Origami Deutschland" gegründet. In Zukunft könnte das traditionelle Papierfalten verstärkt auch als Therapie eingesetzt werden.
"Origami ist viel mehr als eine schöne Bastelei von Hausfrauen", sagt Marlene Rostig. Die Krankenschwester aus Gera fand in den 1980er Jahren ihre Liebe auf den ersten Knick. Seit Mitte 2009 ist sie 2. Vorsitzende von Origami Deutschland - Verein zur Förderung des Papierfaltens. Vor zwei Jahrzehnten wurde die Vereinigung, der heute rund 500 Mitglieder angehören, in Freising gegründet. "Origami hat im Vergleich zu anderen kreativen Techniken wie Malen oder Töpfern noch nicht die Anerkennung im therapeutischen Bereich erfahren", konstatiert Marlene Rostig. "Das wollen wir ändern."
Origami bezeichnet die Kunst des Papierfaltens, bei der unterschiedlichste Formen und Figuren entstehen. Der Begriff setzt sich zusammen aus den japanischen Wörtern "oru" (falten) und "kami" (Papier). Im 6. Jahrhundert brachten chinesische Shaolin-Mönche erstmals Papier nach Japan. Anstatt wie bisher feine Stoffe zu falten, wurden nun kostbare Papiere verwendet. Schon im 14. und 15. Jahrhundert erfreute sich Origami großer Beliebtheit; traditionelle Knicke und Kniffe wurden Generationen übergreifend "vererbt".
Bekanntestes Origami-Modell: Viele Japaner können aus dem Eff-Eff einen Kranich falten.
Nach einer japanischen Legende bekommt derjenige, der 1000 Origami-Kraniche faltet, von den Göttern einen Wunsch erfüllt. Seit dem Tod des kleinen Mädchens Sadako Sasaki, die 644 Kraniche bastelte, aber vergeblich gegen ihre durch radioaktive Strahlung verursachte Leukämie-Erkrankung ankämpfte, gelten die imposanten Vögel als Symbol für Frieden und Hoffnung.
Im Origami gibt es mehrere Faltmanöver, die sich immer wiederholen. Einfache Origami-Modelle kommen gewöhnlich mit zehn bis 30 Faltschritten aus. Hoch komplexe Figuren haben dagegen nicht selten bis zu 300 Faltschritte und sind dem Original sehr ähnlich. Beim klassischen Origami verwenden die Künstler meist ein quadratisches, 15 mal 15 Zentimeter großes Blatt Papier, ohne dabei zu schneiden oder zu kleben.
Was viele gar nicht wissen: Auch Deutschland kann auf eine lange Origami-Tradition zurückblicken. 1840 rief der Pädagoge Friedrich Fröbel eine spezielle Ausbildungsstätte für Kinder ins Leben, die er Kindergarten nannte. Eines der Mittel, die er einsetzte, um die kognitiven und koordinativen Fähigkeiten der Jungen und Mädchen zu fördern, war das Papierfalten.
Ebenso positive Erfahrungen mit dem einfachen, aber vielfältig einsetzbaren Werkstoff sammelten Charles Gibbes und Gwyneth Radcliff. Gibbes war 1914 Hauslehrer des unglücklichen, in sich gekehrten Zarewitsch, dem jüngsten Kind von Nikolaus II. Das Erfolgserlebnis beim Falten eines Papierhutes ermutigte den Neunjährigen zum Sprechen. Radcliff nutzte Origami-Techniken erfolgreich innerhalb der Artikulationstherapie. Hierbei lernten die Kinder, mithilfe von selbst gefalteten Papierpuppen ihre Lippen richtig zu bewegen.
In der jüngsten Vergangenheit berichteten Erzieher und Therapeuten aus diversen Fachgebieten über signifikante Verbesserungen der Konzentrationsfähigkeit bei hyperaktiven Jugendlichen, wenn diese sich mit Origami beschäftigten. Schließlich ist Papier geduldig. Zwecks Erfahrungsaustausch gibt es seit 2006 jedes Jahr in Freiburg/Breisgau eine "Internationale Tagung zur Didaktik des Papierfaltens".
Im Hinblick auf die demografische Entwicklung der Gesellschaft könnte die Origami-Fangemeinde demnächst um viele Talente jenseits des Rentenalters anwachsen: Wie kaum eine andere Handarbeit schult die Papierfaltkunst das Zusammenspiel von Fingern, Augen und Geist. "Ein perfektes Training für Senioren", sagt Marlene Rostig.
Zum Einstieg empfiehlt sie indes die Teilnahme an einem Workshop statt des Griffes zum Do-it-yourself-Buch. Denn: Strichzeichnungen und Origami-Prosa wie "Die untere Spitze der Figur B nach oben talfalten und dann unter die dreieckige Tasche der Figur A stecken" könnten abschreckend wirken.