Vom Stotterer zum US-Präsidenten
Joe Biden und sein Glücksfall: Stottern
Als Kind wurde Joe Biden wegen seines Stotterns verspottet, jetzt wird er Präsident der USA: Betroffene sehen darin ein ermutigendes Zeichen – und manche gar seine „Superkraft“ für den Sieg gegen Trump.
Veröffentlicht:Washington/Köln. Ein erst 13 Jahre alter Junge sorgte beim diesjährigen Parteitag der US-Demokraten für Aufsehen. „Ohne Joe Biden würde ich heute nicht zu Euch sprechen“, sagte Brayden Harrington bei der Veranstaltung im August. „Er sagte mir, dass wir Mitglieder des gleichen Clubs seien: Wir stottern.“ Biden habe ihm gezeigt, wie er selbst seine Reden markiere, damit es einfacher sei, sie laut zu sprechen. Der demokratische Präsidentschaftskandidat habe sich um ihn gekümmert und ihm geholfen, selbstsicherer zu werden. „Stellt Euch vor, was er erst für uns alle tun könnte.“
Rund drei Monate später ist Biden– ein Politiker, der offen über seinen Kampf mit dem Stottern spricht – gewählter Präsident der USA. Verloren hat die Wahl der amtierende Präsident Donald Trump, der sich in der Vergangenheit schon öfter über die Eigenschaften anderer Menschen lustig gemacht hat und von vielen seiner Kritiker deswegen immer wieder als Bully bezeichnet wird. „Darauf kann man es runterbrechen: Amerika hat sich für den Jungen, der stottert, entschieden, und gegen den Bully“, kommentierte ein Beobachter beim Kurznachrichtendienst Twitter.
Joe Biden als Inspiration
Es sei eine „ganz besondere Zeit für Menschen, die stottern“, jubelte der US-Verband der Stotternden, die National Stuttering Association, mit Hauptsitz in New York. Bidens Wahl zum US-Präsident zeige, „was wir schon immer wussten und der Welt gesagt haben: Es gibt keine Grenzen dafür, was Menschen, die stottern, erreichen können“. Biden sei eine „Inspiration für Menschen, die stottern – egal welche politischen Zugehörigkeiten sie haben“.
Auch der Vorsitzende der Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe (BVSS) in Köln, Professor Martin Sommer, spricht von einem „ermutigenden Zeichen“. „Ich hoffe, dass es viele ermutigt, mündiger zu werden“, sagt der Oberarzt an der Klinik für Klinische Neurophysiologie in Göttingen, der seit seiner Kindheit stottert. „Es wäre wünschenswert, wenn viele dadurch den Mut finden, nach vorne zu schauen und sich ihr Leben und ihre Möglichkeiten vom Stottern nicht allzu sehr stören zu lassen.“
Der gewählte US-Präsident Biden hat nicht immer öffentlich über sein Stottern gesprochen, das inzwischen nur noch selten deutlich hörbar ist. „Ich hatte Angst, dass die Menschen denken würden, dass etwas mit mir nicht stimmt, wenn sie wüssten, dass ich stottere.“ Über die vielen Jahre seiner politischen Karriere aber änderte der 78-Jährige seine Herangehensweise und spricht inzwischen offen darüber.
Erniedrigung mit Üben überwunden
Schon in der Schule sei er wegen seines Stotterns gehänselt worden, als „Stutterhead“ (etwa: Stotterkopf) bezeichnet und mit „H-H-H-H-Hey, J-J-J-J-J-Joe B-B-B-B-Biden“ begrüßt worden, erzählte Biden erst kürzlich wieder dem Magazin „The Atlantic“. „Ärger, Wut und Erniedrigung“ habe er dabei gefühlt – aber es habe ihn auch gezwungen, Strategien zu entwickeln, um gegen das Hänseln und das Stottern vorzugehen. Immer und immer wieder übte er, vorzulesen und öffentlich frei zu sprechen – und inzwischen mache ihn das nicht mehr nervös. „Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann ich mir das letzte Mal Sorgen gemacht habe vor einer Gruppe von 80.000 Menschen, 800 Menschen oder 80 Menschen – dieses Gefühl von Furcht hatte ich wahrscheinlich zum letzten Mal im College.“
Das flüssige Sprechen sei auch „Übungssache“, sagt der BVSS-Vorsitzende Sommer. „Der Biden macht das seit 50 Jahren und der hat das drauf. Was man da lernen kann, ist, man kann auch sowas üben, das ist im Prinzip eine Art Sport.“ Viele Stotternde wählten einen Beruf mit der Hoffnung, in diesem nicht viel sprechen zu müssen – aber das sei wahrscheinlich genau der falsche Weg.
„Stottern Bidens Superkraft“
Biden beschreibt inzwischen – getreu dem Narrativ der klassischen amerikanischen Erfolgsgeschichte, bei der Schwächen zu Stärken werden– sein Stottern sogar regelmäßig als „das Beste, was mir je passiert ist“. „Das Stottern hat mir Einblicke in den Schmerz anderer Menschen gegeben, die ich sonst wohl nie gehabt hätte.“ Stottern sei Bidens „Superkraft“, hieß es jüngst auch in einem Kommentar der „New York Times“. Sie habe ihm beim Wahlsieg gegen den Bully Trump, der seine Niederlage nach wie vor nicht eingestehen will, geholfen.
Stottern ist eine größtenteils genetisch bedingte Störung des Redeflusses, die auf einer Schwäche der Faserbahnen in der linken Gehirnhälfte beruht, die die sprechrelevanten Zellen miteinander verbinden. Männer sind häufiger betroffen als Frauen. Schätzungen zufolge stottern rund ein Prozent aller Erwachsenen weltweit – das sind in den USA rund drei Millionen Menschen, in Deutschland rund 800.000.
Dafür, dass es doch vergleichsweise viele Menschen betreffe, gebe es vergleichsweise wenige aktuelle prominente Beispiele, sagt der BVSS-Vorsitzende Sommer. Der britische König Georg VI. (1895-1952), dessen Geschichte mit „The King’s Speech“ oscarpreisgekrönt verfilmt wurde, beispielsweise, die Schauspielerin Marilyn Monroe oder der frühere britische Premierminister Winston Churchill. „Aber Biden ist jetzt vielleicht das entscheidende Beispiel.“
Viele Betroffene bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück
Viele Betroffene hielten sich wohl immer noch zurück und blieben damit hinter ihren Möglichkeiten, vermutet Sommer. Auch da könne die Biden-Wahl vielleicht etwas ändern. „Es könnte ja dazu einladen, ein bisschen die Schaumschläger kritischer zu betrachten und etwas mehr auf schwierigere Erfahrungen und Handicaps zu achten und die auch wertzuschätzen und die Erfahrungen, die damit gemacht werden, auch ernstzunehmen.“ Biden sei ein Beispiel dafür, dass solche Erfahrungen sensibler und empfindsamer für das Gegenüber machten, und das werde hoffentlich zu einem „menschenwürdigeren Umgang“ im Weißen Haus führen.
Aber, so betont Sommer, das Stottern sei nur Nebenaspekt der Person Joe Biden. „Und ich glaube, dass das für Stotternde ganz wichtig ist, dass das nicht der entscheidende Aspekt ist.“ Auch für Biden selbst, wie er gerade dem „Atlantic“ sagte: „Es darf nicht definieren, wer du bist.“ (dpa)