Zwei Ärzte-Schicksale
Lebenskünstler im Rollstuhl und ohne Augenlicht
Unfälle gehören für viele Ärzte zum Berufsalltag. Doch was passiert, wenn sie selbst einen Unfall erleiden oder schwer krank werden? Wir haben zwei Mediziner mit diesem Schicksal besucht.
Veröffentlicht:Wählen Sie selbst, wem Sie in unserer Doppelreportage zuerst über die Schulter schauen wollen:
- Dr. Rudolf Weinhart - Chirurg im Rollstuhl
- Cordula Freifrau von Brandis-Stiehl - blinde Ärztin
Ihm geht es wie allen Unfallopfern. Das Leben war wohlgeordnet bis zu jenem Tag, als alles anders wurde. Einen Moment nicht aufgepasst - und schon war es passiert. Als Chefarzt für Allgemein- und Unfallchirurgie des Krankenhauses in Obergünzburg (Ostallgäu) hat Dr. Rudolf Weinhart viele solche Geschichten gehört. Dass er etwas Derartiges selber mal erzählen würde, hätte er damals nie gedacht. Damals, das war vor dem 10. September 2010.
"Schreiner und Schmied ist mein zweiter Beruf". So beschreibt er sich selber. Handwerklich geschickt ist er. Rund ums Haus erledigt der damals 54- jährige Mediziner alles selber. Schnell noch die Dachrinne sauber machen.
"Heute würde ich die Leiter sorgfältiger anlehnen", sagt er. "Unten sollte jemand halten." So nüchtern, wie er den Unfall beschreibt, so sachlich diagnostiziert er seine Verletzungen und sein Leben "davor" und "danach".
Stürze sind die häufigste Unfallursache im Haushalt. Oft betroffen sind ältere Menschen aufgrund eingeschränkter Beweglichkeit. Die gemeinnützige Aktion "Das sichere Haus" warnt alle Generationen vor Stolperfallen zu Hause durch Teppiche und lose liegende Kabel sowie vor Leichtsinn bei Arbeiten über Kopf mit kippeligen Unterlagen und unsachgemäß aufgestellten Leitern.
Keine Erinnerung an den Sturz
An seinen Sturz kann sich Rudolf Weinhart nicht erinnern, auch nicht an die vier Wochen danach. Von seinem Haus in Memmingen wird er mit dem Rettungswagen nicht zum nur zwei Kilometer entfernten Krankenhaus gebracht, wo er 1984 bis 1997 Assistenz- und Oberarzt gewesen war. Stattdessen wartet der Rettungshubschrauber 300 Meter entfernt und fliegt ihn zum Universitätsklinikum nach Ulm. "Der Kollege hat die Lage sofort gut erkannt", lobt er den Notarzt. Der Patient hat schwere Schädelverletzungen und die Wirbelsäule ist geschädigt. Sein Leben ist in Gefahr.
Jetzt ist Rudolf Weinhart Tetraplegiker - ab dem sechsten, siebten Halswirbel komplett gelähmt. Durch den Unfall fehlen ihm vier Zentimeter seines Rückenmarks. Eine Schädelimpressionsfraktur führte zum Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns. Auch einen Lungenriss hatte er erlitten. Hätte man die Lähmung nicht durch konsequente Behandlung verhindern können? Nein, sagt er. "Zuerst war die Schädel-Op nötig." Erst einen Tag später folgte die Operation an der Wirbelsäule. Vorwürfe macht er seinen Behandlern nicht.
Von Ulm wurde er nach knapp drei Wochen in die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau verlegt. Das Haus am Ufer des Staffelsees bei Garmisch-Partenkirchen ist ein überregionales klinisches Zentrum für die Versorgung von schwerstverletzten Patienten. Hier kam Weinhart dann langsam wieder zu Bewusstsein.
"Als ich die Bilder sah, war alles klar." Vorwürfe habe er sich jedoch nie gemacht wegen der Leiter, depressiv sei er nie geworden, sagt er. Psychologen und Psychiater wollte er nicht. Im Nachhinein erwies sich ein IQ-Test jedoch als positiv: Weinhart konnte seinen Willen gegenüber dem extra angereisten Vormundschaftsrichter glaubhaft äußern und einen fremden Berufsbetreuer verhindern. Er hatte keine Vorsorgevollmacht unterschrieben. "Daraus sollten alle Kollegen lernen. Wir brauchen sowas auch für uns selber."
War Rudolf Weinhart als Arzt ein schwieriger Patient? Nein, meint er. Er habe sich die Diagnosen der Kollegen angehört und mit ihnen darüber diskutiert. "Alles sehr fachlich und sachlich." Ja, die Patienten kommen mit immer mehr Informationen, sagt er. Und das sei nicht immer leicht, denn Laien könnten die vielen Informationen, oft aus dem Internet gewonnen, kaum einordnen. Bei ihm war eine Nachoperation nötig, die Platte im Rücken hatte sich unbemerkt verschoben. "Ich habe halt kein Schmerzempfinden mehr", sagt er. Die Lehre: "Trotzdem Röntgenbilder machen, auch wenn der Patient nicht über Schmerzen klagt. Ich hätte daran früher auch nicht gedacht."
10.000 Euro teurer elektrischer Rollstuhl
Fast ein Jahr war Weinhart in Murnau. In dieser Zeit konnte seine Frau Rita daheim alles für seine Rückkehr vorbereiten. Ärger mit den Versicherungen gab es nicht. Weinhart hatte ausreichend gegen Unfall und Berufsunfähigkeit vorgesorgt, die Diagnosen waren klar. Die nötigen Umbauten im eigenen Haus in Memmingen wurden problemlos bezahlt.
Die Treppe vor dem Eingang hat zu viele Stufen, eine Rampe hätte bis auf die Straße gereicht. So nutzt Weinhart heute mit seinem 10.000 Euro teuren elektrischen Rollstuhl eine sanft ansteigende Rampe zum Wintergarten als Eingang. Im Erdgeschoss wurde das Wohnzimmer mit einer Wand geteilt.
Hier steht sein Pflegebett. In der Garage steht ein Renault Kangoo, ein Hochdachkombi, den die Deutsche Post als Zustellauto nutzt. Weinhart kommt mittels Rampe am Heck an Bord, seine Frau fährt. Ob es für ihn auch eine Möglichkeit gäbe, selber Auto zu fahren, weiß er nicht. Mit dem Zug ist es ihm zu kompliziert.
Rudolf Weinhart liegt oder sitzt morgens im Bett. Nachmittags will er raus, fährt mit dem Rollstuhl zum Einkaufen oder in die Stadt. 50 Kilometer hält die Batterie. Beim Kino ruft er einen Tag vorher an. Die verlegen dann den Film, den er sehen will in einen barrierefreien Saal im Erdgeschoss. Gerade hat er die Multikulti-Komödie "Monsieur Claude und seine Töchter" gesehen.
"Blinde und Gehörlose und geistig Behinderte haben es draußen viel schwerer", sagt Weinhart. Ihm sehe man die Behinderung an, die Menschen seien stets hilfsbereit. "Man muss halt auch mal sagen, was man haben will", so seine Erfahrung. Dennoch bangt seine Frau am Telefon, ob er anruft und ihre Hilfe braucht.
Das Handy in der Armlehne vom Rollstuhl, Marke Eigenbau, kann er mit dem Daumen bedienen. Vier bis fünf Stunden sitzt er im Rolli, dann fürchtet er Druckstellen. Fühlen kann er sie nicht. Das Bett verlagert den Druck automatisch.
Die Überleitungspflege muss besser werden, meint Weinhart aufgrund der eigenen Erfahrungen. Die Angehörigen, die daheim die Verantwortung übernehmen, müssen besser qualifiziert werden. "Ich kann meiner Frau sagen, was sie machen muss, Laien können das nicht." Bereits in der Klinik und in der Reha muss man vom Patienten mehr verlangen.
Davon ist Rudolf Weinhart überzeugt. Schon damals in Obergünzburg hatte er oft das Gefühl, dass viele Patienten "zu bequem" seien oder verzweifelt und dadurch antriebslos. "Sie können doch mehr, wir müssen sie nur motivieren." So lautet seine Forderung, auch wenn dafür heute kaum noch Zeit sei. "Was halt damals ging" hat er in Murnau gelernt für das spätere Leben. Das war nicht viel.
Mit einer guten Logopädin lernte er mühsam schlucken und trinken, was nicht leicht war ohne Schluckreflex. "Schluck jetzt", musste er sich jede Minute sagen, bis das Gehirn dies jetzt automatisch macht. Er musste danach weiter hart an sich arbeiten, konnte mit Ergotherapie den rechten Arm soweit stärken, dass er ihn anheben und etwas beugen kann.
Ein Sohn wird Neurochirurg
Rita Weinhart umsorgt ihren Mann daheim. Sie hatte als MTA im Labor gearbeitet. Die Kinder waren gerade aus dem Haus, als der Unfall passierte. Zwei Töchter wurden Lehrerinnen, der jüngste Sohn studiert Erneuerbare Energien. Der älteste Sohn ist mit dem Medizinstudium fertig. "Er macht jetzt den Facharzt für Neurochirurgie. Das muss er selber wissen. Der Beruf hat sich verändert. Immer mehr Papierkram, immer mehr Zeittakt, immer weniger Zeit für die Patienten.
Als Chirurg wollte ich die Patienten immer vor der Op sehen", sagt Rudolf Weinhart. Seine Frau hat eine zunehmend demente Mutter in Niederbayern. Sie mag ihren Mann aber nicht im Stich lassen, ist höchstens mal zwei, drei Stunden weg.Langfristig denkt das Ehepaar an eine 24-Stunden-Betreuung durch eine Fachkraft aus Osteuropa. Zurzeit kommt morgens und abends der Pflegedienst. "Das möchte ich meiner Frau nicht zumuten."
Jeden zweiten Abend den Darm ausräumen - darüber spricht Weinhart ganz professionell. Schamgefühl? Nein, warum? Zwei Mal pro Woche hat er daheim Krankengymnastik. Stundenweise helfen zwei Krankenschwestern aus. Er kann fast alles essen. "Ich weiß von früher, wie es schmeckt." Die Wasserflasche steht neben dem Bett. Schlucken. Trinken. Nicht vergessen. "Du kannst das, mach es!" Das sagt er sich immer wieder.
Der große Fernseher dient zugleich als Computermonitor. Weinhart bedient ihn mittels Sprachsteuerung. Er skypt gern und hält Kontakt per E-Mail. Er surft viel im Internet, sucht chirurgische Fachinformationen. Und er liest gern Krimis am Monitor.
Da muss niemand Buchseiten umblättern. Ferndiagnosen mit Befunden per E-Mail hat er abgelehnt. "Ohne Patientengespräch geht das nicht." Aber sein Wissen in Sachen Chirurgie, QS-Patienten und Behinderung würde er gern in Vorträgen weitergeben, am besten per Video-Schaltung.Rudolf Weinhart fühlte sich wohl in seinem kleinen Krankenhaus in Obergünzburg.
Von 1997 bis 2010 war er dort Chefarzt, ab 2005 auch am Krankenhaus in Kaufbeuren, 20 Kilometer entfernt - zusammen mit einem Oberarzt, der dort mit ihm Chef wurde. Einen Tag pro Woche operierte er dort Knieprothesen. "Kleine Häuser werden auf Dauer mit dem vollen Leistungsangebot nicht überleben, es fehlt ihnen die Routine", bedauert Weinhart.
Sie sollten sich spezialisieren, meint er, und damit im Op Spezialisten haben, die das Profil und den Ruf des Hauses stärken. In Obergünzburg wird daraus nichts mehr. Nach über 50 Jahren ist der Betrieb am 30. Juni 2013 eingestellt worden.
"Blind sein ist rasend unpraktisch", sagt Cordula Freifrau von Brandis-Stiehl. Aber Jammern kommt für die 62-jährige Ärztin und Psychotherapeutin nicht in Frage.
"Das Leben ist halt anders schön." Sie schwimmt, reitet und reist so viel wie möglich. Dabei ist ihre Freizeit begrenzt. Sie erzählt von 14-Stunden- Tagen in der Praxis und verschiedenen Ehrenämtern. Seit 20 Jahren engagiert sie sich beim Verein "Pro Retina" für Menschen mit Netzhautdegeneration. Sie ist aktiv im Verein "Ethik in der Medizin" und sammelt Spenden für die "Grünen Damen".
Die Ärztin ist erblich vorbelastet. Ihr Vater war an der Augenkrankheit Retinitis Pigmentosa erkrankt, eine durch Mutation oder autosomal dominante Vererbung hervorgerufene Netzhautdegeneration. Drei seiner fünf Kinder leiden inzwischen ebenfalls darunter.
Cordula erhielt die Diagnose mit 17 Jahren, als sich ihr Sehfeld immer mehr verengte. Damals erklärte ihr ein Professor schroff, dass sie in fünf Jahren vollständig erblinden werde. So rücksichtslos wollte sie nicht werden und gab das Wunschfach Medizin auf - zunächst. Sie studierte Biologie, Chemie und Mathematik fürs Lehramt, wechselte während der Referendarzeit doch noch zur Medizin an die Uni Santander in Spanien.
Mit 38 Jahren erblindet
1990, mitten in den Prüfungen, erblindete sie, 38 Jahre alt, wohl durch eine Uveitis. Freunde sprachen den Lehrstoff auf Musikkassetten und Jungmediziner an ihrer Uniklinik halfen der Deutschen beim Lernen. "Diese Solidarität hat mich enorm motiviert." Ihren Mann Ulrich Stiehl, einen Forstwissenschaftler, hat sie blind kennengelernt. Das Paar heiratete 1996 und verzichtete auf Kinder.
Rund 20 Mal wurde Cordula von Brandis-Stiehl operiert. "In der Augenklinik kriegt man keine Krankengymnastik", sagt sie. "Das ist leider heute noch so." Von Kind auf sportlich aktiv, dachte sie sich im Bett Trainingsübungen gegen die Muskeldegeneration aus. Sie kritisiert, dass die Reparaturmedizin und nicht der Mensch im Vordergrund steht.
"Fangen Sie schon mal an mit der Blindenschrift", sagte ihr ein Arzt. "Es klang wie eine Bestrafung." Und was sagt die Ärztin und Psychotherapeutin ihren Patienten? "Suche Dir eine Belohnung" statt "Streng Dich an." "Auf welchen Berg willst Du rauf?" Dabei können Ärzte und Krankenschwestern helfen. Cordula von Brandis-Stiehl weiß aus eigener Erfahrung, dass für Patienten-Psychologie in der Ausbildung und später im Krankenhaus keine Zeit ist.
Nach drei Jahren als Assistenzärztin an einer psychiatrischen Klinik in Marburg war für sie Schluss - danach wäre sie als Behinderte unkündbar geworden. Man hatte sie ausländischen Kollegen gleichgestellt, die ebenfalls keine deutsche Approbation haben.
Eine Ausbildung als ärztliche Psychotherapeutin scheiterte an der geforderten Präsenz eines approbierten Arztes als Supervisor. "Wie soll das gehen?", empört sie sich noch heute. "Psychotherapie braucht Vertrauen. Das geht nicht in Gegenwart eines zweiten Kollegen." Um sich dennoch selbständig zu machen, absolvierte sie die Ausbildung zur Heilpraktikerin. "Viele Ärzte machten einen Bogen um mich", bedauert sie.
Psychotherapie ohne den Patienten ins Gesicht schauen zu können - geht das? Die blinde Medizinerin sieht darin kein Problem. "Die Stimme verrät so viel, die Sehenden hören nur nicht richtig hin", sagt sie.
Aber sie musste hart kämpfen und der KV mit Klage drohen, berief sich auf das Diskriminierungsverbot Behinderter in Artikel 3 des Grundgesetzes. Sie bekam 1999 keine Niederlassung, nur eine Ermächtigung, darf den Sitz nicht verkaufen, wenn sie in Rente geht. Voraussetzung für die Niederlassung wäre "geistige und körperliche Unversehrtheit", wie bei der Approbation.
50 bis 60 Patienten im Quartal
Cordula von Brandis-Stiehl hat 50 bis 60 Patienten im Quartal. "Mehr geht nicht", sagt sie. Die Praxis hat deshalb keine Webseite, es reichen die Überweisungen anderer Ärzte. Rund ein Viertel ihrer Patienten sind medizinisches Personal der Rhön-Kliniken Marburg und Gießen. "Sie kommen unabhängig voneinander, Empfehlungen unter Patienten gibt es in der Psychotherapie kaum."
Sie alle leiden unter Arbeitsüberlastung. So kaufte die Ärztin fünf Aktien des Medizinkonzerns und forderte auf der Hauptversammlung im Juni, einen Teil der Dividende in die Genesungs-Forschung zu stecken. Zwar unterlag sie den großen Anteilseignern, doch der Vorstand wurde auf sie und Pro Retina aufmerksam.
Sie ist stolz auf das Medien-Echo - genauso wie auf das Bundesverdienstkreuz am Bande von Joachim Gauck höchstpersönlich.