Durch Studie belegt

Märchenerzählen beruhigt Demenzkranke

Märchen beruhigen Demenzkranke. Das strukturierte Erzählen ruft positive Verhaltensweisen wach. Das zeigt eine aktuelle Studie, in der mehr als 100 Märchenstunden in Pflegeeinrichtungen ausgewertet wurden.

Von Susanne Werner Veröffentlicht:

BERLIN. Professionell erzählte Märchen helfen offenbar schwer Demenzkranken. Das belegt eine Studie der Berliner Alice-Salomon-Hochschule (ASH). Durch das strukturierte Erzählen kommen die pflegebedürftigen Demenzpatienten zur Ruhe, konzentrieren sich auf den Moment und unterbrechen ihr sonst übliches herausfordendes Verhalten.

"Märchenerzählungen sind psychosoziale Interventionen, die die Lebensqualität der Demenzpatienten verbessern", sagte Professor Ingrid Kollak. Die Pflegewissenschaftlerin hatte mehr als 100 Märchenstunden in Pflegeeinrichtungen wissenschaftlich begleitet und ausgewertet.

Kollak kündigte eine neue Weiterbildungsreihe der ASH an, in der das professionelle Märchenerzählen vermittelt werden soll. Auch will die Professorin eine Langzeit-Studie in einem Akutkrankenhaus auf den Weg bringen.

Reaktionen mit Kameras beobachtet

Die gemeinnützige Märchenland GmbH hatte für die Studie in den vergangenen drei Jahren bundesweit 110 Märchenstunden in Pflegeeinrichtungen mit professionellen Erzählerinnen organisiert.

Die Reaktionen und Anteilnahme von 30 Zuhörern waren mit einer Videokamera aufgezeichnet und ausgewertet worden. Ergänzend waren die beteiligten Erzählerinnen, Leitungs-, Pflegekräfte und Betreuer befragt worden.

Jeder zweite der beobachteten Teilnehmer habe sich, so Kollak, aktiv auf das Geschehen eingelassen, mehr zwei Drittel erlebten die Veranstaltung "erkennbar als positiv". Die Märchenstunden aktualisieren offenbar frühere Verhaltenskompetenzen.

Jene Pflegebedürftigen, die im Alltag eher apathisch und zurückgezogen sind, verfolgten aktiv und freudig die Erzählungen. Andere, die beständig "Hallo" rufen oder dauernd laufend, unterbrachen dieses Verhalten und kamen zur Ruhe.

Augenkontakt zum Publikum

Diane Dierking, Projektleiterin bei der Märchenland gGmbH, ist überzeugt, dass über die Märchenstunden nahezu alle Menschen mit Demenz oder Alzheimer erreicht werden können. So seien unter den Zuhörern alle Berufe und Schichten vertreten gewesen, der jüngste Teilnehmer war 56 Jahre alt, der älteste 99 Jahre.

"Märchen kennen alle, aber um deren Wirkung zu entfalten, müssen sie frei und mit ständigem Augenkontakt zum Publikum erzählt werden", sagte Dierking. Wenn dies gelungen ist, seien die Zuhörer in die Erzählung versunken gewesen und hätten sich sogar bis zu einer Stunde lang konzentrieren können.

Auch die beteiligten Pflegeeinrichtungen loben das Projekt, das der Berliner Senat und das Bundesfamilienministerium gefördert haben. Jörn Somogyvar, Geschäftsführer des Berliner Katharinenhofs, sieht darin vor allem eine Entlastung der Pflegekräfte, die rund um die Uhr mit dem herausfordenden Verhalten der Demenzpatienten konfrontiert sind.

"Vielleicht belächelt man zu Beginn ein wenig das Vorhaben, aber es lohnt sich andere Wege zu gehen", sagte Somogyvar bei der Vorstellung der Studienergebnisse im Rahmen des Demographie-Kongress Anfang September.

Ausbildung im Märchenerzählen

Alexander Dettmann, Geschäftsführer der Berliner Agaplesion Bethanien Diakonie, kündigte an, seine Mitarbeiter an der ASH im Märchenerzählen ausbilden zu lassen.

Diane Dierking, Projektleiterin bei "Märchenland", hat die Erfahrung gemacht, dass die Bremer Stadtmusikanten für viele Demenzkranke zu ihren Lieblingsmärchen gehören.

Mit der Geschichte von den vier betagten Tieren, die aus ihrem Zuhause vertrieben wurden und in einem Räuberhaus wieder heimisch werden, können sich viele der Alten- und Pflegeheimbewohner identifizieren, vermutet Dierking.

Sie habe oft beobachtet, wie die Demenzkranken sich in die Geschichten versenkten und für einige Minuten bis wenige Stunden aus ihren Verhaltensschemata ausstiegen. Unruhige Dauerläufer blieben sitzen und hörten zu. Jene, die andauernd kauten und schmatzten, seien plötzlich in der Lage gewesen, sich zu entspannen.

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Kommentare
Dr. Andreas Rahn 24.09.201512:23 Uhr

Zuwendung, Zeit, menschliche Wärme: das tut den Demenzbetroffenen gut

Demenzbetroffene profitieren vom Märchenerzählen - dieses Ergebnis kommt nicht unerwartet.
Demenzbetroffene profitieren allgemein von:
- menschlicher Wärme
- Zeit
- Zuwendung
- wenn sich jemand mit ihnen beschäftigt, der das gerne tut und der innerlich frei dafür ist (d.h. nicht unter Stress steht, weil er z.B. eigentlich etwas ganz anderes machen muss)
- unter diesen Bedingungen sogar weitgehend unabhängig davon, was man konkret macht: Tanzen, Tieren begegnen, Malen, Musizieren, spazieren gehen, Singen, Spiele spielen, in Erinnerungen schwelgen, alte Bilder ansehen, Museen besuchen, baden, in Ruhe gemeinsam essen, sich Zeit nehmen für alltägliche Verrichtungen, (basale) Stimulation ...
In diesem Sinne ist der Phantasie zu weiteren Studien keine Grenze gesetzt - sie werden alle entsprechende Ergebnisse hervorbringen.
Was aber spricht dagegen, bereits jetzt mehr dafür zu sorgen, dass die betreuenden Personen unter den oben genannten Bedingungen agieren: ausreichend Zeit für die Beschäftigung mit den Demenzbetroffenen einplanen - dies gilt nicht nur für Angehörige, sondern auch für Profis. Auch die Wertschätzung dieser Tätigkeiten muss gegeben sein. Wir brauchen Menschen, die sich die Zeit für die Betreuung von Demenzbetroffenen nehmen, weil sie diese Zeit haben und von der Gesellschaft bekommen. Dann kann man flexibel auf die Einzelpersonen eingehen und/oder Gruppen bilden. In diesem Rahmen kann man zusätzlich auch den professionellen Märchenerzähler oder Musiktherapeuten usw. einsetzen. Es ist aber nicht damit getan, diverse neue Leistungsangebote zu schaffen, wenn man das Grundproblem nicht angeht - und das besteht darin, dass - überspitzt formuliert - aktuell bei uns für die Demenzbetroffenen eigentlich kaum einer Zeit und Muße hat.

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