Durch Studie belegt
Märchenerzählen beruhigt Demenzkranke
Märchen beruhigen Demenzkranke. Das strukturierte Erzählen ruft positive Verhaltensweisen wach. Das zeigt eine aktuelle Studie, in der mehr als 100 Märchenstunden in Pflegeeinrichtungen ausgewertet wurden.
Veröffentlicht:BERLIN. Professionell erzählte Märchen helfen offenbar schwer Demenzkranken. Das belegt eine Studie der Berliner Alice-Salomon-Hochschule (ASH). Durch das strukturierte Erzählen kommen die pflegebedürftigen Demenzpatienten zur Ruhe, konzentrieren sich auf den Moment und unterbrechen ihr sonst übliches herausfordendes Verhalten.
"Märchenerzählungen sind psychosoziale Interventionen, die die Lebensqualität der Demenzpatienten verbessern", sagte Professor Ingrid Kollak. Die Pflegewissenschaftlerin hatte mehr als 100 Märchenstunden in Pflegeeinrichtungen wissenschaftlich begleitet und ausgewertet.
Kollak kündigte eine neue Weiterbildungsreihe der ASH an, in der das professionelle Märchenerzählen vermittelt werden soll. Auch will die Professorin eine Langzeit-Studie in einem Akutkrankenhaus auf den Weg bringen.
Reaktionen mit Kameras beobachtet
Die gemeinnützige Märchenland GmbH hatte für die Studie in den vergangenen drei Jahren bundesweit 110 Märchenstunden in Pflegeeinrichtungen mit professionellen Erzählerinnen organisiert.
Die Reaktionen und Anteilnahme von 30 Zuhörern waren mit einer Videokamera aufgezeichnet und ausgewertet worden. Ergänzend waren die beteiligten Erzählerinnen, Leitungs-, Pflegekräfte und Betreuer befragt worden.
Jeder zweite der beobachteten Teilnehmer habe sich, so Kollak, aktiv auf das Geschehen eingelassen, mehr zwei Drittel erlebten die Veranstaltung "erkennbar als positiv". Die Märchenstunden aktualisieren offenbar frühere Verhaltenskompetenzen.
Jene Pflegebedürftigen, die im Alltag eher apathisch und zurückgezogen sind, verfolgten aktiv und freudig die Erzählungen. Andere, die beständig "Hallo" rufen oder dauernd laufend, unterbrachen dieses Verhalten und kamen zur Ruhe.
Augenkontakt zum Publikum
Diane Dierking, Projektleiterin bei der Märchenland gGmbH, ist überzeugt, dass über die Märchenstunden nahezu alle Menschen mit Demenz oder Alzheimer erreicht werden können. So seien unter den Zuhörern alle Berufe und Schichten vertreten gewesen, der jüngste Teilnehmer war 56 Jahre alt, der älteste 99 Jahre.
"Märchen kennen alle, aber um deren Wirkung zu entfalten, müssen sie frei und mit ständigem Augenkontakt zum Publikum erzählt werden", sagte Dierking. Wenn dies gelungen ist, seien die Zuhörer in die Erzählung versunken gewesen und hätten sich sogar bis zu einer Stunde lang konzentrieren können.
Auch die beteiligten Pflegeeinrichtungen loben das Projekt, das der Berliner Senat und das Bundesfamilienministerium gefördert haben. Jörn Somogyvar, Geschäftsführer des Berliner Katharinenhofs, sieht darin vor allem eine Entlastung der Pflegekräfte, die rund um die Uhr mit dem herausfordenden Verhalten der Demenzpatienten konfrontiert sind.
"Vielleicht belächelt man zu Beginn ein wenig das Vorhaben, aber es lohnt sich andere Wege zu gehen", sagte Somogyvar bei der Vorstellung der Studienergebnisse im Rahmen des Demographie-Kongress Anfang September.
Ausbildung im Märchenerzählen
Alexander Dettmann, Geschäftsführer der Berliner Agaplesion Bethanien Diakonie, kündigte an, seine Mitarbeiter an der ASH im Märchenerzählen ausbilden zu lassen.
Diane Dierking, Projektleiterin bei "Märchenland", hat die Erfahrung gemacht, dass die Bremer Stadtmusikanten für viele Demenzkranke zu ihren Lieblingsmärchen gehören.
Mit der Geschichte von den vier betagten Tieren, die aus ihrem Zuhause vertrieben wurden und in einem Räuberhaus wieder heimisch werden, können sich viele der Alten- und Pflegeheimbewohner identifizieren, vermutet Dierking.
Sie habe oft beobachtet, wie die Demenzkranken sich in die Geschichten versenkten und für einige Minuten bis wenige Stunden aus ihren Verhaltensschemata ausstiegen. Unruhige Dauerläufer blieben sitzen und hörten zu. Jene, die andauernd kauten und schmatzten, seien plötzlich in der Lage gewesen, sich zu entspannen.