Chicorée am Bein statt im Mund
Millionengeschäft mit Salat-Abfall
Nylonstrümpfe aus Chicorée-Salat-Abfällen? Das geht, sagen Wissenschaftler der Universität Hohenheim. Sie gewinnen Basis-Chemikalien für die Chemie-Industrie aus der Wurzelrübe.
Veröffentlicht:HOHENHEIM. Rund 800.000 Tonnen Chicorée-Wurzelrüben fallen jährlich europaweit bei der Produktion von Chicorée-Salat als Abfallprodukt an.
Die Wurzelrüben werden bisher nach der Ernte des Chicorée-Salats auf der Kompostierungsanlage oder in der Biogasanlage entsorgt.
Viel zu schade, so die Ansicht zweier Forscherinnen der Universität Hohenheim. Denn aus diesen Wurzelrüben lässt sich Hydroxymethylfurfural (HMF) gewinnen. Und HMF ist einer der Basisstoffe in der Kunststoffindustrie von morgen.
Ein fensterloser Raum auf der Versuchsstation des Hohenheimer Universitätsgeländes. An den Wänden stehen Regal-Türme mit drei Etagen voll Wannen, ausgekleidet mit Teichfolie.
Darin stehen in Kunststoffkörben aufrecht die 15 bis 20 Zentimeter langen Wurzelrüben, aus denen verkaufsfähige Chicorée-Salatknospen innerhalb von drei Wochen wachsen.
Ähnlich, nur viel größer
Eine Aquariumpumpe umspült die Pflanzen mit einer Nährlösung. Es ist dunkel, damit die Salatblätter keine der Chicorée-typischen Bitterstoffe bilden, die den Verzehr beeinträchtigen könnten.
Ähnlich wie in dieser Versuchsanlage - nur um ein Vielfaches größer - sieht es bei der kommerziellen Produktion von Chicorée-Salat in sogenannten Wasser-Treibereien aus.
Doch anders als in der Lebensmittelproduktion interessiert sich die Universität Hohenheim vor allem für den nicht-essbaren Rübenanteil. Die Wurzelrübe macht rund 30 Prozent der Pflanze aus.
Die eingelagerten Reservekohlenhydrate werden für die Bildung der Salatknospen nicht vollständig aufgebraucht, so dass wertvolle Reservestoffe verbleiben.
"Die Wurzelrüben können jedoch nur einmal für die Chicorée-Treiberei genutzt werden, fallen nach der Knospenernte als Abfallstoff an und müssen entsorgt werden.", erklärt Agrarbiologin Judit Pfenning.
Wie wertvoll diese Wurzelrübe tatsächlich ist, zeigt Professor Andrea Kruse wenige Schritte entfernt in einem Labor des Instituts für Agrartechnik. Im Hintergrund stehen Bleistiftgroße Rohrreaktoren aus Edelstahl, die mit Häckseln der Wurzelrübe und Wasser befüllt werden.
Streng geheim
Die ultrastabilen Druckbehälter werden mit verdünnter Säure versetzt und bis zu 200 Grad erhitzt. Das wässrige Produkt wird anschließend in weiteren Schritten aufbereitet, die der Geheimhaltung unterliegen.
Am Ende erhält ihr wissenschaftlicher Mitarbeiter Dominik Wüst ein gelb bis braun gefärbtes kristallines Pulver: ungereinigtes Hydroxymethylfurfural. HMF ist eine von zwölf Basischemikalien, die zukünftig in der Kunststoffindustrie verwendet werden.
Es dient als Ausgangsstoff für Nylon, Perlon, Polyester oder Kunststoffflaschen - sogenannten PEF-Flaschen im Gegensatz zu den PET-Flaschen. Der Wert im Chemikalien-Großhandel liegt aktuell bei 2000 Euro das Kilo.
Bisher werden solche Chemikalien aus Erdöl gewonnen. Wie sie sich nachhaltig produzieren lassen, ist eine Fragestellung der Bioökonomie. Denn diese setzt auf Energie und Rohstoffe aus Pflanzen, Tieren oder Mikroorganismen statt weiterhin auf fossile Rohstoffe.
Qualität und Lagerung im Blick
Herausforderungen bei dem Projekt sind die gleichbleibende Qualität und Lagerung. Denn die Chicorée-Produktion ist Saisongeschäft.
Die Chicorée-Wurzelrübe produziert eine höherwertige Chemikalie als das Äquivalent aus Erdöl. Dadurch könnten PEF-Flaschen aus Chicorée-HMF beispielsweise dünner gezogen werden, als solche aus Erdöl-PET. Das spart Transportkosten und verbessert die Umweltbilanz noch weiter.
Aktuell wird ein Teil der Chicorée-Wurzelrüben verwendet, um Biogas zu erzeugen. Doch das sei ökonomisch gesehen unterlegen: "Aus 220.000 Wurzelrüben pro Hektar können theoretisch 8,14 Tonnen Inulin gewonnen werden. Das kann nach aktuellem Forschungsstand zu 2,87 Tonnen HMF umgewandelt werden.
Über den Verkauf dieser Menge können ca. 5,74 Millionen Euro erzielt werden. Strom aus Biogas dieser Menge Wurzelrüben würde nach EEG jedoch nur rund 21.000 Euro generieren." (eb)