Neurowissenschaft
Mitgefühl und globale Verantwortung
Lassen sich Fürsorge und Altruismus gezielt trainieren? Ist es möglich, Kompetenz bei Menschen zu entwickeln mit dem Ziel, sie resilient gegenüber Ideologien zu machen? Fragen, die bei einem Frankfurter Symposium vertieft werden. Ehrengast: der Dalai Lama.
Veröffentlicht:FRANKFURT/MAIN. "Wie ist das möglich, dass sich Menschen von Ideologien zu grausamen Taten verführen lassen, obwohl sie sich zuvor über Jahre an moralischen Werten orientiert haben?" Diese Frage bewegt Professor Wolf Singer, Direktor des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Hirnforschung, schon lange. "Wie kann es sein, dass sich Diktatoren an renommierten Hochschulen ausbilden lassen, demokratische Werte kennenlernen und in ihrer Heimat unglaubliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben?" Angesichts des weltweiten Terrors und der von Diktatoren angezettelten Kriegs erscheinen Singers Fragen aktueller denn je.
Persönlichkeitsbildung als Schlüssel
"Viele Probleme, mit denen wir heute konfrontiert werden, sind darauf zurückzuführen, dass wir nicht bereit sind, unsere eigene Wahrnehmung zu relativieren", glaubt der Frankfurter Neurowissenschaftler. Den Schlüssel zu verantwortlichem Handeln sieht er in der frühkindlichen Persönlichkeitsbildung und sozialen Erziehung.
Über Wahrnehmung und Verantwortung wird Singer auf einem (bereits ausverkauften) Symposium sprechen, zu dem die Frankfurter Tibethaus-Kulturstiftung am 14. September in die Jahrhunderthalle Frankfurt-Höchst einlädt. Das Thema der Veranstaltung, die in Kooperation mit der Stadt Frankfurt am Main und der Frankfurter Goethe-Universität stattfindet, lautet "Selbstwahrnehmung, Mitgefühl und Gemeinschaft sowie globale Verantwortung". Höhepunkt ist die Teilnahme des Dalai Lama, geistliches Oberhaupt der Tibeter.
"Universelle Verantwortung ist der Schlüssel zum Überleben der Menschheit", ist das Mantra des Friedensnobelpreisträgers von 1989. Den Weg dorthin skizziert das vom Dalai Lama entwickelte säkulare Konzept einer globalen Ethik, die auf Tugenden wie Warmherzigkeit, Fürsorge und Verantwortungsgefühl basiert. In erster Linie geht es dabei um die Erziehung zu Achtsamkeit und verantwortlichem Handeln.
Oder anders ausgedrückt um "Herzensbildung". Im Unterschied zu westlichen Philosophien verortet der tibetische Buddhismus das Bewusstsein nicht im Hirn, sondern im Herzen.
Eine spezifische Affinität zum Buddhismus habe er nicht, sagte Singer bei einem Pressegespräch im Frankfurter Tibethaus, doch erkenntnistheoretisch sei der tibetische Buddhismus durchaus interessant. Der Dalai Lama und Singer kennen sich seit vielen Jahren. Beide teilen die Auffassung, dass jede Wahrnehmung im Grunde ein Konstrukt ist, basierend auf den eigenen Wahrnehmungen. Und beide treibt seit langem die Frage um, wie man Menschen dazu bringt, resilient gegenüber Ideologien zu werden.
Neben dem Dalai Lama und Hirnforscher Singer nehmen viele weitere international renommierte Experten an dem Symposium in Frankfurt teil, unter anderen der tibetische Gelehrte Professor Lobsang Negi, die Digitalethikerin Professor Petra Grimm, die Psychologinnen Dr. Corina Aguilar-Raab und Helle Jensen sowie die Achtsamkeitslehrer Dr. Britta Hölzel und Mark Milton. Die Teilnahme am Symposium wird durch das Land Hessen als Weiterbildungsmaßnahme anerkannt.
Eine zunehmend komplexe Welt
Lobsang Negi vom Emory College of Arts and Sciences in Atlanta, US-Bundesstaat Georgia, wird ein Bildungsprogramm für Kinder und Jugendliche vorstellen, das auf die Förderung von sozialem, emotionalem und ethischem Lernen (social, emotional, ethical learning: SeeLearning) zielt. Es basiert auf den Annahmen, dass alle Menschen grundsätzlich über die Anlage von Fürsorge, Warmherzigkeit und Altruismus verfügen, diese Eigenschaften gezielt trainiert und vertieft werden können und am Ende auch dabei helfen, den Herausforderungen einer zunehmend komplexeren Welt auf nachhaltige Weise zu begegnen.
Zwei Tage wird der Dalai Lama in Frankfurt am Main weilen, und zwar am 13. und 14. September. Zum Abschluss seines Besuchs findet in der Frankfurter Jahrhunderthalle ein Benefizkonzert unter dem Motto "Sound of Wisdom and Compassion" statt, auf dem unter anderen die Musiker Yvonne Catterfeld und Markus Stockhausen auftreten und das vom Schauspieler Ralf Bauer moderiert wird.
DiDie Veranstaltungen sind ausverkauft.
Weitere Informationen zum Frankfurter Tibethaus gibt es im Internet auf www.tibethaus.com.
Professor Wolf Singer
» DerBuddhismus beschäftigt den Neurowissenschaftler schon lange.
» Unter anderem schrieb er gemeinsam mit Matthieu Ricard dazu das Buch "Jenseits des Selbst: Dialoge zwischen einem Hirnforscher und einem buddhistischen Mönch" (Suhrkamp Verlag 2017, ISBN 978-3518425718).