Aus dem Tagebuch eines AiW als Seenotretter
Seenotretter der SOS Humanity: „Es gibt niemals nur einen Grund zur Flucht“
Im Tagebuch berichtet Jörg Schmid, angehender Allgemeinmediziner, von seinem Einsatz an Bord des Seenotrettungsschiffs Humanity 1. Heute spricht er mit der Menschenrechtsbeauftragten Mirka Schäfer über die schwierige Lage auf See.
Veröffentlicht:Freitag, 23. August. Die Zeit auf dem Schiff neigt sich dem Ende zu. Wir haben noch letzte Arbeiten zu tun. Wir räumen alles auf und machen Inventur. Vieles kommt mir jetzt in den Kopf, was ich während meines Einsatzes beobachtet habe. Nicht alles hat immer Sinn ergeben. Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen, spreche ich heute mit Mirka Schäfer. Sie ist als Menschenrechtsbeauftragte an Bord und sonst politische Sprecherin von SOS Humanity und kann mir hoffentlich ein wenig weiterhelfen.
Mirka Schäfer: Hallo, ich freue mich, dich hier in der Klinik zu besuchen.
Nach der ersten Rettung und Ausschiffung der Geretteten hatten wir einen Moment, der – glaube ich – für die ganze Crew ziemlich gruselig war. Morgens sind auf einmal maskierte Männer mit einem Boot neben uns aufgetaucht. Die hatten ein Gewehr dabei und wir wussten nicht genau, was sie von uns wollten. Nachher haben sie sich als libysche Küstenwache ausgegeben. Wir konnten das aber nicht wirklich einordnen. Was kannst du uns dazu erklären?
Wir treffen auf See immer wieder verschiedene libysche Akteure. Nicht immer sind sie klar zuzuordnen, also manchmal handelt es sich um die so genannte libysche Küstenwache, die auf EU-finanzierten Patrouillenbooten unterwegs ist und teilweise sind es maskierte Männer mit Maschinengewehren, die zwar genauso aussehen wie die anderen, aber es ist nicht klar, wer sie eigentlich sind: Milizen oder auch die SA, das ist eine andere lybische Einheit. Und bei diesen verschiedenen Akteuren gibt es zum einen nachgewiesene Zusammenhänge mit den Verbrechen in den Inhaftierungslagern in Libyen und zum anderen auch mit den Aktivitäten von Schmugglern, die die Menschen dann auf die Boote setzen.
Also da gibt es auf jeden Fall Verbindungen, die die UN auch nachgewiesen hat, die eine Untersuchungsmission in Libyen durchgeführt hat. Aber es ist eben sehr unklar. Wir können also nicht immer sagen, auf welche Akteure wir da eigentlich treffen. Es gibt rivalisierende Parteien, die um die Macht in Libyen kämpfen.
Ich habe Storys von den Menschen aus den ersten Rettungen gehört, wie sie in den Gefängnissen in Libyen behandelt wurden. Dann zu sehen, dass wir diese Menschen auf dem Boot nicht retten können, weil lybische Einheiten sie abfangen und zurückbringen, das hat mich fertig gemacht. Wir haben auch immer wieder schwangere Frauen und kleine Kinder. Da fragt man sich: Warum begeben die sich auf diese gefährliche Reise übers Mittelmeer? Sind die verrückt? Warum machen die das?
Alle Menschen haben individuelle Gründe zu fliehen. Aber ganz klar ist: Niemand flieht ohne Grund. Und ganz akut fliehen Menschen aus Libyen vor der Gewalt in Libyen, die sie dort erfahren, und vor den Menschenrechtsverletzungen. Aber die Menschen berichten eben auch, warum sie aus ihren Herkunftsländern fliehen. Wir haben an Bord der Humanity 1 zwischen 2022 und 2023 eine Umfrage durchgeführt. Die war freiwillig und anonym und die Menschen haben berichtet, aus welchen Gründen sie fliehen. Und das hat sich sehr eindeutig gezeigt, dass es eigentlich immer überschneidende Fluchtgründe gibt. Also nicht einen einzigen Grund, warum Menschen fliehen, sondern mehrere.
Und das kommt sehr darauf an, woher die Menschen kommen und auf ihre ganz individuelle Situation. Aber zum Beispiel natürlich Krieg und Gewalt. Die meisten Menschen, die hier an Bord waren, kommen aus Syrien, aber auch viele aus anderen Ländern Subsahara Afrikas oder aus Bangladesch. Auch der Klimawandel ist ein Grund, warum Menschen fliehen, und auch wie sich das auswirkt auf ihre ökonomische Situation. Dies widerspricht dem weit verbreiteten Bild von einem einzigen Grund, warum Menschen fliehen.
Jetzt geht es für einige der Crew wieder zurück in den Alltag. Manche haben andere Jobs zu Hause, so wie ich auch. Und da fragt man sich natürlich, was kann ich zu Hause tun, wenn ich nicht gerade die Zeit habe, auf ein Rettungsschiff im Freiwilligeneinsatz zu kommen? Was kann jeder und jede Einzelne im Alltag tun, um die Situation im Mittelmeer abzumildern?
Ganz wichtig ist: Leben werden nicht nur auf See gerettet, sondern auch an Land. Es muss sich politisch etwas verändern, und dafür müssen wir uns auch an Land einsetzen und politisch Druck erzeugen. Wir haben als SOS Humanity Freiwilligengruppen in verschiedenen Städten in Deutschland, wo man sich einbringen kann, zum Beispiel für Demonstrationen, Infostände oder Aktionen.
Und ganz konkret wird noch ein Arzt oder eine Ärztin für die nächsten Rettungseinsatz ab Oktober gesucht. Kurzfristig ist da leider jemand ausgefallen. Wenn ihr also Interesse habt, vielleicht schon mal in dem Bereich gearbeitet habt, dann meldet euch gern bei SOS Humanity.
Mirka, vielen Dank, dass du meine Fragen beantwortet hast.
Weitere Informationen über SOS Humanity gibt es auf der Webseite der Organisation.