Im Alter selbstständig bleiben

Seniorennnetzwerk Schwäbisch Gmünd: Wenn das „Morgenohr“ zweimal klingelt

Das Städtchen Schwäbisch Gmünd zeigt mit seinem Seniorennetzwerk, dass mehr Selbstständigkeit bis ins hohe Alter möglich ist, wenn ältere Menschen Unterstützung im Alltag bekommen. Viele unterschiedliche Stellen ziehen dafür an einem Strang. Von dem Angebot profitieren nicht nur die Senioren, sondern die ganze Gesellschaft.

Meike Mittmeyer-RiehlVon Meike Mittmeyer-Riehl Veröffentlicht:
Ältere Menschen beim Mittagstisch „Unter d’Leut".

Die Mittagstische „Unter d’Leut“ werden gut angenommen.

© Michael Rau/Raupunktgestaltung

Guten Morgen, wie geht es Ihnen denn heute?“ Wenn sich die Ehrenamtlichen vom „Morgenohr“ telefonisch bei der alleinstehenden 84-Jährigen melden, ist es vielleicht sogar das einzige Gespräch, das die Seniorin den ganzen Tag führt. Menschen über 75 Jahre sind im Schnitt am stärksten von Einsamkeit betroffen, wie aus dem „Einsamkeitsbarometer 2024“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hervorgeht: 10,2 Prozent aus dieser Altersgruppe fühlen sich durch Einsamkeit belastet. Ein Plausch am Morgen kann hier schon einiges bewirken und das Gefühl vermitteln: Da ist jemand, der sich um mich sorgt.

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Das „Morgenohr“ ist nur einer der insgesamt 14 Bausteine des weit verzweigten Seniorennetzwerks im baden-württembergischen Schwäbisch Gmünd, das es seit 2011 gibt. „Uns ist es wichtig, dass ältere Menschen am sozialen und kulturellen Leben teilhaben können, dass die Grundversorgung und die Mobilität gewährleistet sind“, betont Gesamtkoordinatorin Karolina Gorjainow, die bei der Stadt Schwäbisch Gmünd angestellt ist. „Wir leisten Präventionsarbeit und bieten Unterstützung in der Häuslichkeit und auch in Krisensituationen an.“ Für seinen innovativen Ansatz und das breit gefächerte Hilfsangebot mit Vorbildcharakter hat das Seniorennetzwerk Schwäbisch Gmünd den dritten Platz beim Springer Medizin Charity Award belegt.

Eine Frau hält das Telefon für das "Morgenohr" hoch.

Das „Morgenohr“ ist ein Baustein des Seniorennetzwerks: Ehrenamtliche rufen ältere Menschen an und fragen, wie es ihnen geht.

© Michael Groll / Grolldesign

Lange in der gewohnten Umgebung bleiben

Fakt ist: Die älter werdende Gesellschaft stellt die Sozialsysteme vor große Herausforderungen. Im Mai sprach Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach von einem „explosionsartigen“ Anstieg Pflegebedürftiger. Erstmals überhaupt gebe es zwei Generationen, die gleichzeitig auf Pflege angewiesen seien – die Babyboomer und deren Eltern. Laut der Pflegevorausberechnung des Statistischen Bundesamtes könnten allein durch die fortschreitende Alterung der Gesellschaft im Jahr 2055 etwa 6,8 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig sein – gegenüber fünf Millionen in 2021.

Zugleich wünschen sich viele ältere Menschen, möglichst lange in der gewohnten Umgebung bleiben zu können und sich ein Stück Selbstständigkeit zu bewahren. Doch wenn die Familie weit weg lebt, es vielleicht gar keine Angehörigen mehr gibt und auch andere Hilfsangebote fehlen, bleibt häufig doch nur noch der Umzug in ein Pflegeheim. Auch wenn das rein körperlich vielleicht noch gar nicht unbedingt nötig wäre und andere Menschen den Platz dringender bräuchten.

„Auch die professionellen Dienste haben Personalmangel, wie wir alle wissen. Viele sind an ihrer Kapazitätsgrenze“, sagt Koordinatorin Gorjainow. „Wir versuchen, durch unsere Hilfsangebote eine Versorgungslücke zu schließen und die Systeme zu entlasten“. Das A und O sei dabei die Vernetzung, um den Menschen passgenau die Hilfe zu bieten, die sie benötigen – und das ohne großen Verwaltungsaufwand.

Alle Fäden laufen in der Koordinierungsstelle zusammen

Wo sich Betroffene oder Angehörige vielerorts Informationen von verschiedenen Anbietern mühsam selbst suchen müssen, laufen im Seniorennetzwerk Schwäbisch Gmünd alle Fäden in der Koordinierungsstelle in der Stadtverwaltung zusammen. Die 14 Bausteine werden teils von professionellen Diensten und zum anderen Teil von ehrenamtlich Engagierten angeboten: Es gibt unter anderem einen Seniorenfahrdienst, Besuchsdienste, Spazierpaten, Telefonseelsorge, Mittagstische, handwerkliche Unterstützung, Gesprächskreise und einen ambulanten Hospizdienst. Auch generationenübergreifende Projekte sind Bestandteil des Netzwerks, etwa die „Leih-Großeltern“: Ältere Menschen kommen mit Kindern zusammen und unternehmen gemeinsam Ausflüge oder spielen. Das Motto: Jung und Alt begegnen sich, unterstützen einander und lernen voneinander.

Die Stadt kann auf einen großen Pool ehrenamtlicher Mitstreiter zurückgreifen: Mehr als 120 Bürger engagieren sich in dem Projekt. „Schwäbisch Gmünd ist eine Mitmachstadt“, sagt Bürgermeister Christian Baron. Teilweise habe das auch mit ihrer Struktur zu tun: „Wir sind eine sehr dezentrale Stadt, haben elf Stadtteile. Der kleinste hat 500 Einwohner, der größte 10.000. Und die haben alle ein Stück weit ihre Identität bewahrt. Die Menschen wachsen mit Vereinen, mit Ehrenamt auf. Viele können sich ein Leben ohne das gar nicht vorstellen.“ Doch allein mit Freiwilligen könnte ein Projekt wie das Seniorennetzwerk nicht gestemmt werden. „Ehrenamt braucht Hauptamt“, weiß Petra Kümmel von der Agentur „Pflege engagiert“, die als Fachberatungsstelle über Fördermöglichkeiten für Projekte der Pflege-Selbsthilfe aufklärt. „Ohne die Unterstützung und die Begleitung von Ehrenamt wären nachhaltige Projekte nicht möglich. Die Förderung dient dazu, dass Personalkosten und andere große Posten finanziert werden, sodass alles Hand und Fuß hat.“

Beim Seniorenfahrdienst bringen Ehrenamtliche ältere Menschen zu Arztterminen oder Veranstaltungen.

Beim Seniorenfahrdienst bringen Ehrenamtliche ältere Menschen zu Arztterminen oder Veranstaltungen.

© Michael Groll / Grolldesign

Zwei Säulen sichern die Finanzierung

Die Agentur „Pflege engagiert“ gibt es seit 2008. Das baden-württembergische Sozialministerium und die Pflegekassen haben den Landesseniorenrat damals beauftragt, diese Beratungs- und Vermittlungsstelle einzurichten. Sie klärt über Fördermöglichkeiten für Seniorennetzwerke, aber auch andere ehrenamtliche Initiativen auf, erläutert Kümmel. „Die Förderung ist so gestaltet, dass in der Regel die Kommune etwas dazu beiträgt und das Land und die Pflegeversicherung diese Beträge verdoppeln.“

Laut Kümmel profitieren in Baden-Württemberg dank der Beratungsarbeit von „Pflege engagiert“ etwa 50 Seniorennetzwerke von der Förderung. „Wir schätzen aber auch, dass es bis zu 120 ähnliche Organisationen in kleinerem und größerem Maße gibt, die noch keine Förderung erhalten.“ Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit seien daher extrem wichtig, damit sich die Unterstützung herumspricht. „Die Fördermöglichkeit nach dem Paragrafen 45 SGB XI ist ein Bundesgesetz, die Umsetzung liegt bei den Ländern.“

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Das sehr breit aufgestellte Seniorennetzwerk Schwäbisch Gmünd hat aber noch eine zweite Säule, die die Finanzierung sicherstellt: die Hospitalstiftung Zum Heiligen Geist. Sie wurde vor über 750 Jahren „zum Zweck der Unterstützung von alten, kranken und hilfsbedürftigen Menschen“ gegründet. Dieses Motto gilt im Prinzip auch heute noch, man würde es vielleicht nur etwas anders formulieren, findet Renate Wahl, Leiterin der städtischen Seniorenarbeit: „Die Hospitalstiftung greift da ein, wo der Sozialstaat an seine Grenzen kommt.“ Da Seniorenarbeit vielerorts zu den freiwilligen Leistungen zählt, können Projekte mitunter schon mal an den hohen Kosten scheitern, selbst wenn Fördermöglichkeiten genutzt werden. In Schwäbisch Gmünd schließt die Stiftung diese Lücke. „Ohne Hospitalstiftung wären wir sicher nicht so gut personell und auch räumlich aufgestellt“, betont Wahl.

In Zeiten knapper kommunaler Kassen kann es für viele Städte also eine ganz schöne Herausforderung sein, ein Projekt wie das Seniorennetzwerk auf den Weg zu bringen. Bürgermeister Christian Baron macht anderen Kommunen dennoch Mut, das Thema anzupacken: „Es gibt einfach nur Gewinner. Das geht natürlich nicht mit einem Fingerschnipsen von heute auf morgen. Man braucht einen langen Atem.“ Dass sich diese Mühe lohnt, spüren die Seniorinnen und Senioren in Schwäbisch Gmünd jeden Tag, wenn das „Morgenohr“ klingelt oder der Besuchsdienst vorbeischaut.

Seniorennnetzwerk Schwäbisch Gmünd ist Gewinner des Springer Medizin Charity Awards 2023. Dieser Beitrag soll die Arbeit der Preisträger*innen würdigen und entstand im Rahmen eines Medienpaketes, das Teil der Auszeichnung ist.

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