Theater auf Rezept
Mit einer "Kulturspritze" können Kinder und Jugendliche aus Berlin nach ihrer Vorsorgeuntersuchung in die kalte Jahreszeit starten. Bei der U10, U11 und J1 verordnen Pädiater in der Hauptstadt das "Theater auf Rezept".
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Kinderarzt Dr. Ulrich Fegeler verordnet den Gutschein "Theater auf Rezept" für junge Patienten.
© Vanessa Nieberding
BERLIN. Was hat Kultur mit Gesundheit zu tun? Jede Menge! Das findet zumindest der Theatermacher Stefan Fischer-Fels, derzeit Künstlerischer Leiter des GRIPS Theater in Berlin.
"Wenn man Kindern Essen und Trinken vorenthält, sterben sie. Wenn man ihnen Kultur vorenthält, verkümmern Herz und Seele", sagt er.
Also hat sich der Theatermann Verbündete gesucht, um auch solchen Kindern den Zugang zum Theater zu öffnen, die aus ihrer Familiensituation heraus den Weg in die heiligen Hallen der hohen Kunst nicht finden.
Fündig wurde Fischer-Fels bei den Kinderärzten - zunächst in Düsseldorf. Seit 2009 wird dort bei den Vorsorgeuntersuchungen U10, U11 und J1 für Sieben- bis 13-Jährige "Theater auf Rezept" verordnet. Die Familien erhalten Gutscheine für einen Kindertheaterbesuch mit Begleitperson.
U-Untersuchungen sind entscheidend
Eine Förderung der Siemens Betriebskrankenkassen (SBK) macht es nun möglich, dass diese "Kulturspritze" nicht mehr nur in Düsseldorf injiziert wird. Seit kurzem können auch Berliner Kinder auf Rezept ins Theater.
Dabei ist es egal, welcher Krankenkasse sie angehören, vorausgesetzt die Kasse bietet die optionalen Vorsorgeuntersuchungen U10 und U11 an. Geplant ist, dass das Projekt unter der Schirmherrschaft von Musiker Peter Maffay irgendwann bundesweit läuft.
In Berlin sind die Kinderärzte nun mit je 25 Gutscheinen ausgestattet worden. Weitere können sie direkt beim Grips-Theater nachbestellen.
Bei einer Spielplanpräsentation hat das Kindertheater rund 70 Ärzten und ihren Helferinnen die medizinischen Wirkstoffe der Kulturspritze erläutert.
Kinder in der "medialen Hölle"
Kinderärzte sind von der heilenden Kraft des Theaters überzeugt. "Kinder sind heute anders krank", sagt der Sprecher des Berliner BVKJ Dr. Ulrich Fegeler. Kinder aus bildungsfernen Familien leben nach seinen Worten zwischen Fernsehen und X-Box oft in einer "zweidimensionalen Schattenwelt" oder "medialen Hölle".
"Da ist Theater direkt eine Medizin", sagt Fegeler. Sein Kollege aus Nordrhein Dr. Josef Kahl verweist auf die zunehmenden Sprachprobleme bei Kindern und darauf, dass Sprache im Theater gefördert werde. Er berichtet, dass das Projekt in Düsseldorf gut ankommt.
Scheinbar gelingt es, wirklich die zu erreichen, die man erreichen will. Theatermann Fischer-Fels schildert aus seiner Düsseldorfer Projekt-Erfahrung, "dass viele Familien zum ersten Mal ein Theater betreten haben".
Die dreimalige Verabreichung der Theaterdosis sorge für Nachhaltigkeit durch einen Wiederholungseffekt, ergänzt Kinderarzt Kahl.
Anspruch auf U-Vorsorgen gefordert
Ganz ohne Seitenhieb auf die Politik können die Kinderärzte der Kultur jedoch nicht frönen. BVKJ-Präsident Dr. Wolfram Hartmann übte scharfe Kritik daran, dass U10 und U11 keine Regelleistungen der gesetzlichen Krankenversicherung sind.
"Das liegt ganz wesentlich daran, dass die Bundesregierung es immer noch nicht geschafft hat, den gesetzlichen Anspruch auf Vorsorgeuntersuchungen im Grundschulalter festzuschreiben", wetterte er. "Wir prangern das seit Jahren an."
Hartmann verweist darauf, dass "Theater auf Rezept" nicht die erste Kulturtat seines Verbands ist. Vorangegangen war das Paket Lesestart bei der U6.
Er findet es wichtig, dass das neue Projekt in möglichst viele Städte kommt. "Die Nachfrage unserer Mitglieder aus Orten, wo es noch nicht angeboten wird, ist immens", sagt er.