Tokio 2020
Verstrahlter Fackellauf bei den Olympischen Sommerspielen?
In Fukushima soll der Fackellauf für die Sommerolympiade in Tokio, die „Wiederaufbau-Spiele“, starten. Er soll auch nahe der Atomruine Fukushima Daiichi verlaufen – erhöhte Strahlung inklusive. Es regt sich Widerstand im Land.
Veröffentlicht:Tokio/Fukushima. Um null Uhr in der Nacht zum 4. März schob ein Wachmann in Futaba vor Fotografen und Fernsehkameras eine Sperre zur Seite und gab den Weg frei. Fast neun Jahre lang hatte dieser Teil des Dorfes im Nordosten Japans zur Sperrzone Rot gezählt. Denn das Dörfchen mit 7000 Einwohnern liegt nur vier Kilometer von dem am 11. März 2011 in Folge eines Mega-Bebens und Tsunami havarierten Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. Doch nun kann jeder, der möchte, zumindest diesen Teil von Futaba ohne Genehmigung betreten, der sich zwei Quadratkilometer um die zentrale Bahnstation erstreckt. Erstmals seit der Dreifachkatastrophe soll dort ab 14. März die Joban-Linie der Bahngesellschaft Japan Rail East Futaba wieder mit dem Rest der Region verbinden.
Die Öffnung dieser Zone ermöglicht den Arbeitern, die in Wiederaufbauprojekten tätig sind, in Unterkünften in der Nähe des Bahnhofs unterzukommen. Ihre Aufgabe ist es laut den örtlichen Beamten, in den kommenden zwei Jahren die Wasserversorgung und andere Infrastruktur wiederherzustellen. Allerdings wollen nur zehn Prozent der früheren Bewohner überhaupt zurück nach Futaba.
Dass die Evakuierungsbefehle jetzt aufgehoben werden, hat einen weiteren aktuellen Anlass: Am 14. Februar gab die Regierung in Tokio bekannt, dass an jener Stelle in Futaba der Olympische Fackellauf vorbeiführen soll. Dieser beginnt am 26. März an einem anderen Ort in der Präfektur Fukushima und endet nach 121 Tagen, nachdem er die Hauptstädte aller 47 Präfekturen passiert hat, am 24. Juli in Tokio – so der Plan.
Vorspiegelung heiler Welt?
Der Bürgermeister von Olympia hat derweil gefordert, die für den 12. März geplante traditionelle Zeremonie zur Entzündung des Olympischen Feuers aufgrund der Corona-Epidemie zu verschieben. Am 19. März soll das Feuer in Athen an die Japaner übergeben werden.
Der Fokus auf Fukushima ist Teil der PR-Strategie der japanischen Regierung vor den „Wiederaufbau-Spielen“ in Tokio. Als sich Japan um die Ausrichtung der Spiele bewarb, hieß es, man wolle damit die Moral in den von Erdbeben, Tsunami und Atomunfall betroffenen Präfekturen heben und speziell das Image von Fukushima aufbessern.
Yuji Onuma, Bürger von Futaba, sieht das politische Ansinnen skeptisch. „Ich wünschte, sie würden den Fackellauf nicht hier durchführen“, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters. „Ihr oberstes Ziel ist es, zu zeigen, wie weit wir mit dem Wiederaufbau gekommen sind. Ich denke nicht, dass die Menschen irgendetwas verstehen werden, wenn sie einfach nur ein paar gesäuberte Landstriche sehen.“ Er sieht darin den Versuch, der Welt einen falschen Eindruck von der Realität zu geben.
Messungen in der Nähe der Bahnstationen ergaben Werte von 0,28 Mikrosievert pro Stunde – höher als das von der Regierung definierte Ziel von 0,23 Mikosievert pro Stunde. Als Standard für die Aufhebung der Zwangsevakuierung gelten 20 Millisievert pro Jahr oder weniger – ein Wert, den Kritiker als zu hoch für ein dauerhaftes Leben vor Ort einstufen – vor allem für kleine Kinder.
Der Startpunkt des Fackellaufs ist das sogenannte J-Village, früher ein Trainingszentrum für Profi-Fußballer, und gerade 20 Kilometer südlich des havarierten Meilers gelegen. Nach den Kernschmelzen in drei Reaktoren in Fukushima Daiichi wurden dort die Arbeiter einquartiert. Erst 2019 hat man den Ort wieder zum Sportzentrum mit elf Fußball- und Rugby-Feldern für Elite-Vereine umgewandelt.
Strahlung: Hotspots über Grenzwert
Laut einer im Dezember veröffentlichten Untersuchung von Greenpeace ist die radioaktive Verstrahlung am Parkplatz vor dem Sportzentrum J-Village und in den umliegenden Wäldern weiter hoch. Das japanische Umweltministerium habe danach bestätigt, dass zwei von Greenpeace angezeigte Hotspots mit 71 Mikrosievert pro Stunde am Boden und 32 Mikrosievert pro Stunde zehn Zentimeter darüber seither entfernt wurden. Doch Messungen der Umweltorganisation danach ergaben weitere Hotspots im Umfeld, an denen die Messwerte mit zwischen 0,6 und 2,6 Mikrosievert pro Stunde zehn Zentimeter bis einen Meter über dem Boden registriert wurden – und damit deutlich über den von der Regierung gesetzten Dekontaminierungszielen mit 0,23 Mikrosievert pro Stunde.
„Die radioaktive Verstrahlung am J-Village ist nicht unter Kontrolle und bleibt komplex – mit hohen Strahlungswerten der Umgebung – die sich ausbreiten kann und mit heftigen Regenfällen anderswo wieder konzentrieren kann“, sagte Heinz Smital in einer Erklärung der Organisation. Er ist Kernphysiker und Experte für Strahlung bei Greenpeace Deutschland und führte die Untersuchung vor Ort durch. Smital forderte die Behörden auf, einen neuen Plan für die Dekontaminierung vorzulegen.
20 mSv / JAHR Strahlenbelastung darf eine Sperrzone nach der Havarie des Atomkraftwerkes Fukushima Daiichi im März 2011 gemäß einem Beschluss der japanischen Regierung höchstens aufweisen, damit die Evakuierungsbefehle aufgehoben werden.
Der Chef der internationalen Atombehörde IAEA, Rafael Mariano Grossi, besuchte Ende Februar das havarierte Kraftwerk und Futaba. Er zeigte sich beeindruckt von den gemachten Fortschritten und lobte den Einsatz der Arbeiter unter schwierigen Bedingungen. Inzwischen können sich Besucher der Anlage in einem Großteil des Geländes ohne Schutzkleidung bewegen – ein krasser Unterschied zu den Jahren kurz nach der Katastrophe. „Dieser Trend ist sehr ermunternd“, sagte Grossi laut einem Bericht auf der IAEA-Website. „Wir haben Japan vom ersten Tag an zusammengearbeitet und diesen gesamten Prozess gesehen. Natürlich gibt es noch Herausforderungen, die auf dem weiteren Weg in den kommenden Jahren bevorstehen.“
Zu diesen „Herausforderungen“ zählt zum einen die Tatsache, dass das geschmolzene Brennmaterial aus den zerstörten Reaktoren sicher geborgen werden muss. Zum anderen haben sich über eine Million Tonnen kontaminiertes Wasser angesammelt. Bisher wurde das Wasser in großen Tanks aufbewahrt – doch es wird erwogen, es ins Meer abzulassen. Örtliche Fischer sorgen sich, dass dies ihre Arbeit erneut beeinträchtigen wird, nachdem 2019 erstmals sehr restriktive Beschränkungen gelockert wurden.
Nicht nur in Futaba, auch in den Nachbargemeinden Okuma und Tomioka wurden Evakuierungsbefehle Anfang März aufgehoben. Das Dorf Iitate, das schon länger wieder zugänglich ist und wohin seit der Katastrophe 1200 von 6100 früheren Bewohnern zurückgekehrt sind, liegt ebenfalls auf der Strecke. Zwar ist es rund 60 Kilometer von der havarierten Anlage entfernt, bekam aber durch die Winde damals überdurchschnittlich viel vom Fallout ab.
Anfang März rief die Bürgerorganisation Radioactivity Monitoring Center for Citizen (Chikurin-sha) in Tokio dazu auf, die Route nicht durch Iitate zu führen. Sie hatte im Dezember und Januar an Stellen in mehreren Dörfern und Gemeinden entlang der Route gemessen. An 43 von 69 Stellen sei der Messwert über dem Grenzwert von 0,23 Mikrosievert pro Stunde gelegen. In Iitate fanden sie den stärksten Hotspot mit 0,85 Mikrosievert pro Stunde.
Die Organisation wies auf die trockenen Bedingungen Ende März hin, und auf das Risiko, kontaminierten Staub einzuatmen „Läufer und ihre Unterstützer, vor allem Kinder, müssen gewarnt werden“, appellierte Kazumasa Aoki, Vizepräsident von Chikurin-sha. Er kritisierte den japanischen Ministerpräsidenten Shinzo Abe für dessen Versuch, durch die Deklarierung der Spiele als „Wiederaufbau-Olympia“ so zu tun, als sei der Wiederaufbau abgeschlossen. Aber die Strahlung durch die Kernschmelzen im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi sei weiter schwerwiegend, warnte Aoki. „Es darf nicht sein, dass die Olympischen Spiele dazu benutzt werden, die falsche Information in die Welt zu schicken.“