Reportage
Wenn die rollende Arztpraxis kommt
Sechs Dörfer in der Region Wolfenbüttel in Niedersachsen profitieren von einem ungewöhnlichen medizinischen Versorgungskonzept: Zu festen Terminen kommt eine rollende Arztpraxis ins Dorf.
Veröffentlicht:WOLFENBÜTTEL. Der Name täuscht. Groß Flöthe ist klein. Ein Kirchlein, ein paar Straßen, ein Neubaugebiet, ein Sportplatz, eine Kneipe - aber kein Arzt. "Schon seit Jahren nicht", sagt Ingetraut Brandt.
Sie sitzt im Dorfgemeinschaftshaus von Groß Flöthe und deutet zur Tür hinaus. "Das hat sich ja nun geändert."
Tatsächlich steht draußen ein VW-Crafter, ein Bus mit der Aufschrift "Rollende Arztpraxis". Der Flur im Dorfgemeinschaftshaus in Flöthe ist an diesem Vormittag für drei Stunden das Wartezimmer von Hausarzt Dr. Jürgen Bohlemann.
Drei Patienten haben im Flur Platz genommen. Gerade hat Bohlemann die Schiebetür des Wagens hinter sich und einem Patienten geschlossen.
Ein strukturschwacher Ort
Hinter einer Glaswand im Dorfgemeinschaftshaus übt derweil die Herzsportgruppe in Gymnastik mit bunten Medizinbällen. Ein Trupp Sperlinge macht draußen im Hof Geplärr. Der Wind fegt über die Rabatten am Sportplatz.
Die Straßen sind menschenleer. Dann und wann fährt ein Auto durch den Ort. Groß Flöthe ist "strukturschwach".
Hierher und in fünf andere Dörfer der Region Wolfenbüttel in Südost Niedersachsen kommt Bohlemann am Steuer der rollenden Arztpraxis seit dem 6. August zu den Patienten.
Alle zwei bis drei Wochen fahren er oder seine Kollegin, Dr. Silke Wachsmuth-Uhrner, die Standorte an und behandeln die Patienten quasi auf dem Schützenplatz, am Dorfgemeinschaftshaus oder auf dem Schulhof.
Der Arzt auf Tour - das ist, wenn es um Hausbesuche geht, immer seltener der Fall. Und wenn es um den Arzt auf Rädern geht, in Deutschland ein Novum, sieht man mal von den Bussen ab, die in manchen Großstädten obdachlose Menschen versorgen.
Im Vorfeld des Projektes war darum gestritten worden, ob diese rollende Lösung eine gute Idee ist. Sollten die Patienten nicht etwa per Sammeltaxi zum Arzt kommen und nicht umgekehrt der Arzt zu ihnen?
Tatsächlich brauchte das Projekt den Segen des Ärztekammerjuristen. Denn eigentlich ist Ärzten das Arbeiten im Umherziehen verboten.
"Aber wir stehen ja an festen Standorten", sagt Bohlemann, "und wenn die Hausärzte unserer Patienten es wünschen, machen wir nachmittags Hausbesuche." Vom Behandeln im Umherziehen könne also keine Rede sein.
Dorfbewohner sind erleichtert
Die Dorfbewohner jedenfalls sind erleichtert über die Lösung die nun gefunden wurde. "Ich bin zum zweiten Mal hier, um eine Tetanusspritze zu bekommen", sagt Landwirt Joachim Mahlstedt aus Groß Flöthe. "Ich hätte keine Zeit, deshalb 20 Kilometer zu Hausarzt zu fahren."
Cramme, Flöthe und Roklum, Hedeper und Dahlum und Winningstedt heißen die Stationen der rollenden Arztpraxis in der niedersächsischen Provinz. "An einem Standort kommt immer die Bäckerin vorbei und bringt mir morgens einen Kaffee", lacht Bohlemann, "die Leute sind froh, dass es uns gibt."
Joachim Mahlstedt wird seine Spritze bekommen und Bohlemann wird für den Hausarzt des Landwirtes einen Arztbrief schreiben, "Damit der Kollege weiß, was los ist", sagt er. Zwei Drittel der Kollegen finden den Bus gut.
"Aber manche Kollegen fürchten auch, dass sie Patienten an uns verlieren", räumt Bohlemann ein.
Auch Ingetraut Brandt aus Groß Flöthe begrüßt die rollende Praxis. "Als mein Mann noch lebte, da konnten wir nach Salzgitter oder Wolfenbüttel zum Arzt fahren. Aber jetzt ist mein Mann tot und die Kinder müssen ja arbeiten und haben keine Zeit", berichtet sie.
Klar, dass die alte Dame den Arzt schätzt, der quasi vor die Haustür kommt.
Die Patienten seien denn auch zumeist "70 plus", sagt Bohlemann. "Einmal ist ein 98- Jähriger Mann zu mir gekommen", berichtet er, "aber nicht er wollte zum Arzt, sondern seine Frau. Er hat sie auf ihrem Rollator durchs Dorf bis hierher geschoben." Mit anderen Worten: Der Bedarf ist groß.
Leuchtturmprojekt
Ein "Leuchtturmprojekt" nennt Stefan Hofmann, Chef der KV-Bezirksstelle Braunschweig, die Rollenden Arztpraxis, "eine dritte Säule der Versorgung." Zwei Jahre Vorbereitungszeit hat ihn das Projekt gekostet.
Projektpartner sind neben den Krankenkassen der Landkreis Wolfenbüttel und das Peter L. Reichertz Institut für Medizinische Informatik der TU Braunschweig.
Mit im Boot sitzen außerdem das Braunschweiger Informatik- und Technologie-Zentrum (BITZ) GmbH, sowie die Initiatoren der "Zukunftsregion Gesundheit" des Niedersächsischen Gesundheitsministeriums, in die das Projekt eingegliedert ist.
Auch Volkswagen mit Sitz im nahen Wolfsburg ist unter den Partnern. Der Konzern hat das Auto gesponsert. Die Partner haben einen Rahmenvertrag geschlossen. Die Versorgung läuft über einen Strukturvertrag nach Paragraf 73 a SGB V.
Allerdings halten sich die Ersatzkassen - abgesehen von der Barmer GEK - zurück und nehmen an dem Vertrag nicht teil. Der Umstand hat schon zu Ärger und Presserummel geführt, weil eine Patientin abgewiesen wurde, deren Kasse bei dem Projekt nicht mitmacht.
"Die Frau will jetzt die Kasse wechseln", so Bohlemann.
Eigene Abrechnungsnummer für den Bus
Der Bus hat eine eigene Abrechnungsnummer. Fahrzeughalter ist der Landkreis Wolfenbüttel. "Wir wollen mit der rollenden Arztpraxis den Hausärzten keine Konkurrenz machen", stellte der damalige Wolfenbütteler Landrat Jörg Röhmann vor dem Start des Projekts klar.
"Unsere Grundprämisse ist eine enge Zusammenarbeit mit den Hausärzten. Es gibt keine Behandlung an den Ärzten vorbei!", sagte Röhmann, der inzwischen Staatssekretär im Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration ist.
Im Dörfchen Flöthe sieht Bohlemann an diesem Vormittag gerade mal acht Patienten. Mit anderen Worten: Die rollende Arztpraxis ist kein Ort zum Geldverdienen. "Hier gibt es keine Verdünner, wer kommt, ist auch krank," sagt Bohlemann.
Für ihn ist das kein Problem. Er ist als beratender Arzt bei der Kassenärztlichen Vereinigung angestellt. Aber bald sollen weitere Ärzte dazu kommen.
"Wir können nicht mit den Krankenhäusern konkurrieren und mit der rollenden Praxis tatsächlich einen Arzt ernähren", sagt Hofmann, "die Kliniken bieten 70 bis 110 Euro in der Stunde. Unser Projekt liegt bei 50 Euro."
Geplant ist für das Fahrzeug eine Fünf-Tage-Woche, die sich drei bis vier Ärzte teilen. "Den Job können eigentlich nur Ärzte machen, die nicht mehr im aktiven Dienst sind", sagt Hofmann.
Behandlungszimmer wie im Cockpit
Das Geld dürfte also nicht der Grund sein, sich hinters Steuer des Crafters zu setzen. "Man braucht Abenteuerlust", sagt Bohlemann. Wie in einem Cockpit sitzt er im "Behandlungszimmer" des Busses zwischen Liege, Laptop und Laborgerät.
Das Mobil hat ein EKG ebenso an Bord wie einen Formulardrucker und ein winziges Pulsoxymeter - "mit USB-Anschluss", wie Bohlemann anmerkt - alles säuberlich in Schränken verstaut.
Man braucht auch Spaß an der Technik, Lust mit einem 3,2-Tonner über Land zu fahren und die Bereitschaft, auch ohne MFA zu arbeiten.
"Und vor allem braucht man hausärztliche Erfahrung und Know How", sagt Bohlemann, der selber viele Jahre lang Hausarzt in Nordrhein-Westfalen war. "Schließlich ist man irgendwo auf dem Schützenplatz auf sich allein gestellt."
Das Projekt läuft bis Ende 2014, dann wird entschieden, ob es taugt. Dass die Patienten das Angebot nicht annähmen - darüber macht sich Bohlemann keine Sorgen.
"Wer einmal kommt, kommt immer wieder", sagt er, "am Schluss kriege ich sie alle überzeugt."