Magie vs. Feldstudie

Wie Forscher Fußball ergründen

Die WM in Brasilien zeigt: Fußball ist unberechenbar. Dabei belegen Studien: Schiedsrichter bevorzugen kleine Spieler, blonde Kicker treffen beim Elfmeter. Eine Übersicht.

Von Pete Smith Veröffentlicht:

Fußball ist Leidenschaft, ein Spiel der Emotionen, bei dem es auf Ballfertigkeit, Technik, Willen, Ausdauer, Taktik und Teamgeist ankommt, das mitunter jedoch durch einen einzigen Fehler entschieden wird und die Massen gerade seiner Unwägbarkeiten wegen verzaubert.

Zufall schlägt Ratio, scheint es, und dennoch bemüht sich die Wissenschaft verzweifelt, die Magie des Fußballs mittels Feldstudien zu enträtseln.

Wobei man überaus wichtige Fragen beantwortet: Sind Torhüter einsamer als Stürmer? Hängt der Erfolg einer Mannschaft von der Farbe ihres Trikots ab? Ist Sex vor einem Spiel der eigenen Leistung zuträglich? Und: Werden kleine Spieler vom Schiedsrichter bevorzugt?

Torhüter: Frühe kindliche Prägung?

Fangen wir mit den Torhütern an, den Sonderlingen jeder Mannschaft: Sie ziehen sich anders an als ihre Mitspieler, dürfen im Unterschied zu ihnen den Ball mit der Hand anfassen und verbringen die meiste Zeit des Spiels allein. Wie wird einer zum Torwart? Antworten auf solch schicksalhafte Fragen liegen oft in der Kindheit begraben.

Und tatsächlich: Torhüter haben im Vergleich zu den Feldspielern viel seltener Geschwister. Das hat Michael Perkin von der Abteilung für Kindermedizin der St. George's Hospital Medical School in London herausgefunden. Seiner Studie zufolge haben Goalkeeper im Durchschnitt 1,1 Geschwister und damit signifikant weniger als die Verteidiger (1,8), Stürmer (2,2) und Mittelfeldspieler (2,4).

Perkins Erklärung: Wenn Kinder zu kicken anfangen, gehen sie am liebsten ins Tor, während Papa ihnen leichte Bälle zuschiebt. Je mehr Geschwister sie aber haben, desto häufiger müssen sie zwischen Tor und Spielfeld wechseln, wodurch sie weitere Positionen ausprobieren können. Nun wissen wir, warum Mittelfeldstars wie Lionel Messi und Mesut Özil mit je drei Geschwistern aufgewachsen sind.

Überragende Torhüter wie Manuel Neuer, Iker Casillas oder Gianluigi Buffon sind nur schwer zu überwinden, selbst beim Elfmeter fliegen sie oft ins richtige Eck. Dabei gibt es eine todsichere Methode, Strafstöße zu verwandeln, glaubt Professor Armin Kibele, Sportwissenschaftler an der Universität Kassel.

Er hat ein Trainingsprogramm entwickelt und mit seinen Studenten erprobt. Da der Schütze beim Duell gegen den Torwart einen Zeitvorteil von 100 bis 150 Millisekunden habe, müsse dieser, will er den Schuss parieren, bereits abspringen, bevor der Fuß des Schützen den Ball berührt.

Gibt es perfekte Elfmeter?

Verzögere der Schütze aber seinen Anlauf exakt bis zu jenem Moment, da der Torwart reagiert, so könne er den Ball in die freie Ecke schießen. Während der WM in Brasilien haben Thomas Müller und Neymar gezeigt, wie das geht. Bei richtigem Training, ist der Kasseler Forscher überzeugt, lasse sich eine Trefferquote von nahezu 100 Prozent erreichen.

Seine Erkenntnis wird durch eine Studie ergänzt, die der norwegische Sportpsychologe Professor Geir Jordet bereits 2009 vorgelegt hat ("Temporal links to performing under pressure in international soccer penalty shootouts"): Danach versenkt, wer sich zwischen Schiedsrichter-Pfiff und Elfmeterschuss mindestens eine Sekunde konzentriert, den Ball in vier von fünf Fällen.

Übrigens: Dass der Gefoulte den Elfmeter keinesfalls selbst schießen sollte, ist spätestens seit Erscheinen der zweibändigen Studie "Taktik und Analyse im Fußball" (2006) des Statistikers Dr. Roland Loy als Mythos widerlegt.

Danach verwandelt der Schütze - ob gefoult oder nicht - im Durchschnitt drei von vier Elfmetern. Am besten schießt er dabei hoch, hat Loy ermittelt, ab einer Höhe von 1,22 Metern habe er eine Trefferwahrscheinlichkeit von 99 Prozent.

Zu diesem Thema abschließend die Empfehlung eines überaus klugen Engländers an seine elfmetergeplagten Landsleute: Astrophysiker Stephen Hawking empfiehlt den Three Lions nach Analyse vorausgegangener Elfmeterschießen (und in den meisten Fällen leider auch verlorener), ihre Schützen nach der Haarfarbe auszuwählen: Blonde Kicker droschen 84 Prozent ihrer Elfmeter ins Netz, Glatzköpfe trafen in 71 und Dunkelhaarige in 69 von 100 Versuchen. Was vielleicht erklärt, warum sich Wayne Rooney Haare transplantieren und seinen Schopf zwischenzeitlich blond färben ließ.

Ballbesitz ist wichtig, Zweikampfstärke sowieso, nicht zuletzt entscheiden Standardsituationen wie Freistöße und Eckbälle ein Spiel: Wenn es nach den TV-Experten geht, die uns in den vergangenen vier Wochen an ihrer großen Weisheit haben teilhaben lassen, hat die aktuelle WM Erkenntnisse geliefert, die allgemeingültig sind und künftige Erfolge garantieren.

Blöd nur, dass Roland Loys Statistiken das Gegenteil behaupten: Ballbesitz? Am Ende gewinnt nur jede dritte Mannschaft, die den Ball länger in ihren Reihen hält als ihr Gegner.

Zweikampfstärke? Nur 40 Prozent jener Teams, die die meisten Zweikämpfe gewinnen, gehen auch als Sieger vom Platz. Standards? Entscheiden selten ein Spiel.

Auch dem Expertenrat, ruhig mal von Weitem aufs Tor zu halten, kann der nüchterne Analyst nichts abgewinnen: Aus mehr als 25 Metern, so Loy, findet nur jeder 75. Weitschuss sein Ziel. Allein die Zahl der Großchancen habe entscheidenden Einfluss auf das Ergebnis des Spiels.

Wie wichtig die Farbe des Trikots ist

Vergessen wir also Technik und Taktik und wenden uns den zwingenden Faktoren zu. Beispielsweise der Farbe des Trikots. Die britischen Anthropologen Russell A. Hill und Robert A. Barton fanden heraus, dass bei zwei gleich starken Mannschaften jenes Team gewinnt, das in Rot antritt. Die Signalfarbe sei ein Stimulus, der die männliche Dominanz unterstreiche, so die Begründung der Forscher.

Auch Schiedsrichter reagieren auf die Farbe der Leibchen, wie die Psychologen Mark G. Frank und Thomas Gilovich von der Cornell-University ermittelten, insbesondere auf schwarze Trikots: Die Farbe verbinde man allgemein mit dem Bösen, weshalb die Unparteiischen Spieler im schwarzen Dress weitaus häufiger zurückpfiffen als ihre hell gekleideten Gegner.

Überhaupt, die Schiedsrichter: Dass sie in den ersten 15 Minuten eines Spiels vergleichsweise milde agieren, wie Professor Daniel Memmert, Leiter des Instituts für Kognitions- und Sportspielforschung an der Deutschen Sporthochschule in Köln, durch seine Studie belegt hat, sehen wir ihnen ja noch nach.

Aber dass die Referees, wie ihnen Niels van Quaquebeke und Steffen Giessner von der Rotterdam School of Management nachgewiesen haben, größeren Spielern wie Per Mertesacker in Zweikämpfen eher Foulspiele zutrauen (und die dann auch ahnden) als kleineren Spielern wie Lionel Messi, das finden wir ungerecht.

Nun aber zur alles entscheidenden Frage: Dürfen sich die Profis vor einem wichtigen Spiel sexuell vergnügen, oder mindert die körperliche Liebe ihre Aggressivität?

Wir erinnern uns: Torwartlegende Sepp Maier fand, dass Sex kurz vor dem Anpfiff die Spieler schön locker macht ("Zack zack, da geht's viel besser!"), und Argentiniens Fußball-Gott Diego Armando Maradona behauptete auf dem Höhepunkt seiner Karriere, mindestens einmal am Tag (natürlich auch am Spieltag) Sex zu benötigen, sonst kriege er Kopfschmerzen.

Sex? Leistungssteigerung!

Der Hamburger Urologe und Androloge Professor Frank Sommer vertritt die Auffassung, dass die Spanne zwischen erotischem und sportlichem Höhepunkt entscheidend sei.

Vier bis sechs Stunden vor einem Spiel sexuell aktiv zu sein, habe keinerlei negativen Einfluss auf die Leistung, und die erotische Entspannung in den Tagen davor könnte die Performance sogar steigern. Unmittelbar vor dem Einsatz allerdings rät er zur Abstinenz.

Dagegen hat der belgische Sportmediziner Chris Goossens, Clubarzt des Erstligavereins Germinal Beerschot Antwerpen, in eigenen Untersuchungen festgestellt, dass bei einem Spieler, der in der Nacht vor dem Match Sex hatte, die Herzfrequenz schneller anstieg, was sich im entscheidenden Moment, wenn er beispielsweise allein vor dem gegnerischen Torwart steht, durchaus negativ auswirken könne - zum Nachteil seiner Mannschaft.

Wer an dieser Stelle noch immer glaubt, der fußballerische Erfolg sei planbar, möge sich durch zwei weitere Studien bekehren lassen: 40 Prozent aller Tore im Fußball verdanken wir dem Zufall, hat Professor Martin Lames, Sportwissenschaftler an der TU München, ermittelt: Ein Ball wird abgefälscht, landet als Abpraller vor dem Fuß eines Stürmers oder springt vom Innenpfosten ins Tor. Genau das ist es auch, was unser Herz beim Fußball höher schlagen lässt.

Tatsächlich ist er von allen Sportarten die mit den meisten Überraschungen, wie eine Studie des US-Statistikers Eli Ben-Naim vom Los Alamos National Laboratory bestätigt. Beim Fußball gewinne zu 45 Prozent der vermeintlich Unterlegene, im Eishockey sind es 41, im Basketball und American Football nur 36 Prozent.

Fußball geht ans Herz

Apropos Herz. Im Verlauf einer Fußball-Weltmeisterschaft, warnen Forscher der Ludwig-Maximilians-Universität München, sei ein signifikanter Anstieg der Herz-Kreislaufattacken zu beobachten.

Die Forscher haben während der WM 2006 in Deutschland Notarztprotokolle ausgewertet und ermittelt, dass während der sieben Einsätze der deutschen Equipe in Kliniken fast dreimal so viele Patienten mit akuten Herzproblemen behandelt wurden wie an normalen Tagen.

Wir Armen! Denn auch für die Partnerschaft ist eine WM alles andere als zuträglich. Nicht nur dass sich viele Frauen von ihren Männern vernachlässigt fühlen; jeder dritte Mann (aber auch jede dritte Frau) empfindet laut einer Umfrage der Kontaktagentur Lovepoint Public-Viewing-Veranstaltungen als perfektes Alibi für einen Seitensprung.

Last but not least kann Fußball nach Erkenntnissen des Politikwissenschaftlers Andrew Bertoli von der Universität Berkeley im US-Bundesstaat Kalifornien Staaten sogar zum Krieg verleiten.

Seine durch Studien belegte These: Länder, die sich für eine Fußball-Weltmeisterschaft qualifiziert hatten, traten im Jahr der WM bedeutend aggressiver gegenüber anderen Staaten auf als die nicht-qualifizierten Länder. Fußball stärke den Nationalismus, der wiederum die Rivalität zwischen Staaten erhöhe und beide im schlimmsten Falle spalte.

Beispiele in der Geschichte seien der Fußballkrieg zwischen Honduras und El Salvador 1969, gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen serbischen und kroatischen Fans 1990 als Prolog des Jugoslawienkriegs sowie der Konflikt zwischen Ägypten und Algerien 2009 infolge ägyptischer Fan-Übergriffe auf den Bus des Gegners.

Mitunter, und das ist die gute Nachricht, könne Fußball aber auch Frieden schaffen. 2006 etwa habe die Fußball-WM in Deutschland dabei geholfen, den Bürgerkrieg in der Elfenbeinküste zu beenden, da sich das ivorische Volk vereint hinter die eigene Mannschaft gestellt habe.

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