Nebenwirkungen des Lockdowns

Wie jede Pandemie-Phase ihre Sündenböcke hervorbringt

Der „Sündenbock“ ist uralt und biblisch. Auch in der Corona-Zeit gibt es immer wieder neue Gruppen von Menschen, auf die mit dem Finger gezeigt wird – aktuell etwa der Bartträger. Eine Übersicht.

Von Gregor Tholl Veröffentlicht:
Enganliegende Maske? Das ist bei vielen Hipstern schwierig. Angesichts der Pflicht zum Tragen medizinischer Masken sind Bartträger zu Buhmännern geworden.  Toni Rantala / Zoonar / picture alliance

Enganliegende Maske? Das ist bei vielen Hipstern schwierig. Angesichts der Pflicht zum Tragen medizinischer Masken sind Bartträger zu Buhmännern geworden. Toni Rantala / Zoonar / picture alliance

© Toni Rantala / Zoonar / picture

Berlin. In Seuchenzeiten passiert es immer wieder, dass bestimmte Menschen für das Auftreten und dann vor allem für die Verbreitung verantwortlich gemacht werden. An dieser Stelle soll es dabei nur am Rande um Corona-Verschwörungstheorien über Ethnien, Religionen oder Prominente gehen. Thema ist das Phänomen Sündenbock an sich. Dass moderne Menschen immun dagegen seien, mit dem Finger auf andere zu zeigen, wird in der Corona-Pandemie widerlegt.

„Pestzeiten sind beispielhafte Gelegenheiten für Caritas und Philanthropie, jedoch ebenso für Neid, Denunziantentum und Gewaltausbrüche“, weiß der Erlanger Medizinhistoriker Karl-Heinz Leven, der dies im Sammelband „Jenseits von Corona“ schrieb.

Dann soll Aaron seine beiden Hände auf dessen Kopf legen und über ihm bekennen alle Missetat der Israeliten (...), und soll sie dem Bock auf den Kopf legen und ihn durch einen Mann, der bereitsteht, in die Wüste bringen lassen, dass also der Bock alle ihre Missetat auf sich nehme und in die Wildnis trage.

Das Dritte Buch Mose 16,21-22

Der „Sündenbock“ ist uralt und biblisch. Im dritten Buch Mose (Levitikus; 3. Mose 16, 21 f.) wird ein Ziegenbock – beladen mit den Sünden des jüdischen Volkes – in die Wüste geschickt. Ein starkes Bild, das sich bis heute gehalten hat und für Menschen benutzt wird, auf die die angebliche Verantwortung abgewälzt wird.

Kulturrassistische Stereotypen

Als herauskam, dass das Coronavirus vermutlich auf dem Huanan-Markt im chinesischen Wuhan auf den Menschen übertragen wurde, gab es viele kulturrassistische Stereotype. Das Narrativ schien schnell gefunden: Als Schuldige waren die Hunde-und-Katzen-und-Fledermäuse-essenden Chinesen ausgemacht. Jenseits dieses Klischees wurde im Laufe der Pandemie immer wieder breit über bestimmte Leute geschimpft.

Denn: Auch wenn Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) gerne betont, das Virus sei der Spielverderber und nicht er, fällt es Menschen schwer, auf ein Virus wütend zu sein. Eine Übersicht:

  • Bartträger: Bei Bartträgern verfehlen FFP2-Masken ihre Wirkung, denn die Luft kann beim Atmen ungefiltert an den Seiten vorbeiströmen. Angesichts der neuen FFP2-Masken-Pflicht für Supermärkte und öffentliche Verkehrsmittel werden deshalb derzeit Herren mit Vollbart zu neuen Buhmännern. Erlangens Oberbürgermeister Florian Janik (SPD) rasierte seinen Bart ab. Fotos davon postete er auf Facebook und begann eine Bart-ab-Challenge mit der Aufforderung an andere, es ihm gleich zu tun. „Der Tagesspiegel“ betitelte eine haarige Glosse: „Liebe Hipster, bitte rasiert Euch schnell!“ Ritzen könnten fatal sein. „Und jeder zugige Rauschebart eine Einladung fürs Virus.“
  • Asiaten: Menschen, denen eine asiatische Herkunft zugeschrieben wird, haben vor allem in den ersten Wochen der Pandemie in Europa Beleidigungen auf der Straße, Hassbotschaften im Netz oder sogar verweigerte Arzttermine erleben müssen. Auch Ex-US-Präsident Donald Trump sprach vom Coronavirus wiederholt als „China-Virus“. In Deutschland wurden Opferberatungsstellen neben den immer wieder üblichen antisemitischen Übergriffen auch rassistische, antichinesische Vorfälle gemeldet.
  • Arme oder Einwanderer: Das Herabschauen auf ärmere oder vielleicht einfach nur anders lebende Menschen gehört in unserem Wirtschaftssystem für viele zur eigenen Identität. „Der Tagesspiegel“ kommentierte etwa: „Wer sich an Einwanderern stört, war sicher: Sie verbreiten das Virus. Sei es, weil sie auf engem Raum zusammenleben, sei es, dass sie in ihren Heimatländern Familien besuchten...“
  • Kampfjogger: Rücksichtslose Läufer, die viel zu nah an anderen Fußgängern vorbeilaufen, waren der „taz“ im vergangenen April eine Polemik wert: „Der SUV unter den Fußgängern“ strahle „seine optimierte Existenz hell strahlend in die Welt hinaus“ und blicke auf andere herab. „Ich mache das, wozu ihr faulen Säcke euch nicht aufraffen könnt, weswegen es nur folgerichtig ist, dass ihr Hartz IV bezieht und ich mir demnächst eine Eigentumswohnung kaufen werde.“
  • Jugendliche Partymacher: Wer womöglich selber schon zu alt ist oder eh nie Ausgehen liebte, zeterte schon im vergangenen Frühling über Feierwütige in Parks oder „diese jungen Leute“, die angeblich rücksichtslos ihrem Hedonismus frönten.
  • Kapitalisten: Ob skrupellose Fleischfabrikanten mit unwürdigen Arbeitsbedingungen oder Chefs, die ihre Untergebenen in Büros antanzen lassen, anstatt Homeoffice zu ermöglichen – immer wieder taucht die Wut auf Manager auf, die dem Profit mutmaßlich Vorrang einräumen und nicht dem Schutz vor dem Virus. „Wir könnten viel Zeit und Nerven sparen, wenn uns die Wirtschaft einfach formlos mitteilen würde, wer konkret am Leben bleiben soll“, polemisierte der Zero-Covid-Aktivist Leo Fischer.
  • Masken-unter-der-Nase-Träger: Anstatt mit der Maske Mund und Nase abzudecken, ziehen viele sie herunter und tragen die Bedeckung nur unter der Nase, also bloß über dem Mund. „Dann kann man es auch gleich lassen“, fällt Virologen und vielen anderen dazu nur ein.
  • Politiker: Ob die Bundeskanzlerin oder die Kultusministerkonferenz oder die sich streitenden Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten – die von der Corona-Krise überforderten Politiker in Deutschland (aber eigentlich überall) eignen sich perfekt für alle möglichen Projektionen.
  • Glühweintrinker: Als die Weihnachtsmärkte ausfielen und Stände mit dem Heißgetränk zum Mitnehmen auftauchten, schienen die Glühwein-to-go-Konsumenten rasch als rücksichtslose Mitbürger ausgemacht. Auch Gesundheitsminister Spahn sagte, während manche mit Dutzenden am Glühweinstand stünden, arbeiteten zur selben Zeit Pflegekräfte rund um die Uhr und gäben alles, um Menschen zu retten.
  • Rodler: Rodelreue wurde von den Leuten gefordert, die Ausflüge in den Schnee machten. Viel zu viele Egoisten seien unterwegs, so eine gängige Sichtweise auf die Menschen, die raus wollten. Die sogenannten Skidioten galten vielen als Superspreader. (dpa)
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