Arzt auf dem Maidan
"Wir wurden Meister im Improvisieren"
Die Krise im Osten der Ukraine spitzt sich immer weiter zu. Wie brenzlig die Lage für die Menschen sein kann, haben die Proteste auf dem Maidan gezeigt. Der Arzt Sergej Bricko-Steuer hat dort Verletzte versorgt. Im Interview spricht er über Angst, 40 Grad Fieber und ein chirurgisches Eck.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Was hat Sie dazu bewogen, als Arzt auf dem Maidan zu arbeiten?
Sergej Bricko-Steuer: Über Freunde auf Facebook bekam ich mit, wie die Lage immer ernster wurde. Ich erfuhr, dass junge Menschen, die eigentlich unpolitisch sind, zu Schaden kamen, allein weil sie öffentlich rein ethische Fragen gestellt haben. Das war der Moment.
Ich wusste, die Kämpfer, die sich auf beiden Seiten gegenüberstehen, sind ganz normale Menschen. Außerdem war der Maidan die Seele der Nation. Junge Ukrainer wollten sich dort eine bessere Zukunft erschaffen.
Wäre ich nicht gefahren, hätte ich mich mein Leben lang gefragt, warum ich nicht geholfen habe. Deshalb war ich vom 25. Januar bis zum 2. Februar als Arzt auf dem Maidan im Einsatz.
Wie kann man sich die Arbeit als Arzt dort vorstellen?
Sergej Bricko-Steuer
Aktuelle Tätigkeit: Arzt in einer Berliner Praxis für Schmerztherapie und Gastarzt am Vivantes Klinikum in Berlin Friedrichshain
Privates: Seit 18 Jahren lebt er in Deutschland und arbeitete zunächst als Augenarzt
Ausbildung: Medizinstudium an der Nationalen Medizinischen Universität in Kiew, Schwerpunkt Innere Medizin
Engagement: Mitarbeit bei medizinischen Hilfsprojekten bei einer Nichtregierungsorganisation in Albanien und UNICEF
Bricko-Steuer: Beengt, provisorisch, aber erfüllend. Ich war am zentralen Versorgungspunkt im Haus der Gewerkschaften. Im Einsatz waren pro Nacht bis zu sieben Ärzte. Internisten, Augenärzte, Hals-Nasen-Ohren-Ärzte, Chirurgen und Anästhesisten.
Jeder hatte einen Stuhl und ein kleines Regal im Korridor, wo er Patienten behandeln konnte. Außerdem hatten wir einen OP-Saal. Geholfen haben uns zwei bis vier Schwestern.
War die Arbeit dort gefährlich?
Bricko-Steuer: Zum damaligen Zeitpunkt gab es einen staatlichen Erlass. Jeder, der sich auf dem Maidan befand, nahm demzufolge an Aktivitäten teil, die zu sozialen Unruhen führen. Alle, die sich dort befanden, waren sozusagen Gesetzlose. Sicher hatte ich Respekt vor der Situation, wirklich Angst hatte ich nur nachts, wenn ich von der Arbeit kam. Schlägertrupps waren unterwegs.
Da bin ich so manch einen Umweg gelaufen. Andere Ärzte haben mehr riskiert. Einige von ihnen kamen aus der östlichen Ukraine. Mit ihrem Engagement in Kiew haben sie ihren Job zu Hause riskiert. Manche Kliniken drohten Ärzten mit Rausschmiss, wenn sie sich auf dem Maidan freiwillig einbringen.
In welchem Fachgebiet haben Sie denn auf dem Maidan gearbeitet?
Bricko-Steuer: Abwechselnd als Internist und Augenarzt. Ich habe jeweils in Zwölf-Stunden-Schichten gearbeitet. Wir waren der erste ärztliche Anlaufpunkt für die Menschen. Bei den Barrikaden gab es weitere Punkte für Verletzte, die es noch nicht bis zu uns schafften.
Wir haben Notfälle für den Transport in eine Klinik vorbereitet und die Demonstranten vor Ort in ihrem Alltag versorgt. Am Tag habe ich etwa hundert Menschen behandelt.
Was waren die häufigsten Leiden der Demonstranten?
Bricko-Steuer: Viele Leute waren schon zwei Monate auf dem Maidan. Sie lebten in Zelten, die nur schlecht beheizt waren. Wir hatten viele Pneumonien und Patienten mit Bronchitis zu versorgen. Nicht wenige davon mit über 40 Grad Fieber und in völlig erschöpftem Zustand.
Die Wasserwerfer der Polizei sorgten bei vielen für Erfrierungen. Immer wieder brennende Autoreifen und Tränengas ließen schlimme Atemwegsprobleme entstehen. Außerdem Lichtbomben und Knallbomben.
Die Leute kamen zum Teil spastisch und psychotisch bei uns an. Manche mussten wir vor der Behandlung erst mal aus ihrer Traumwelt befreien. Sie dachten, sie wären im Kampf mit den Ärzten. Aber das waren noch die geringsten Probleme.
Was waren die größten Schwierigkeiten?
Bricko-Steuer: Die Patienten hatten Angst, dass sie auf dem Weg zur Klinik von der Polizei oder Schlägertrupps geholt werden. Ihnen drohte der Aufenthalt in einer Zelle. In der Zeit wären Kranke ohne Behandlung geblieben. Uns wurde berichtet, dass Leute sogar aus der Klinik entführt wurden.
Die Demonstranten vom Maidan waren für alle zu erkennen. Der Gestank der Rauchschwaden vom Maidan war schließlich sehr einprägsam. Wir konnten sie nur unter Schutz von Verwandten oder Freunden auf den Weg in die Klinik bringen.
Hinzu kam die schlechte Ausstattung. Bei schweren Fällen mussten wir immer auf die Ambulanz warten, weil wir kein zuverlässig arbeitendes EKG-Gerät hatten. Es gab komplizierte Schusswunden und einen aufgeschnittenen Hals zu behandeln. Dabei wurden wir Meister im Improvisieren von Ausstattung in unserem chirurgischen Eck.
Haben Sie auch Polizisten versorgt?
Bricko-Steuer: Es gab getrennte Versorgungswege. Wir haben uns nur um die Demons-tranten gekümmert. Die Polizei, die das ukrainische Parlament bewachte, wurde dort von eigenen Kräften versorgt.
Was für Eindrücke haben sie zurück mit nach Deutschland genommen?
Bricko-Steuer: Nicht viele Leute können sich in der Ukraine eine gute medizinische Behandlung leisten. Die Dankbarkeit den freiwilligen Behandlern gegenüber war enorm. Es flossen auch Freudentränen.
Was mich ganz besonders beeindruckt hat, war das Miteinander und das Engagement der Leute. Mich hat das überwältigt. Alle Generationen und gesellschaftlichen Klassen waren verbunden. Da waren Alte und Junge, Arme und Reiche, Handwerker und Lehrer.
Jene, die sonst in Kontroversen leben, waren auf dem Maidan eins. Einer hat sich um den anderen gekümmert. Verpflegung und Kleidung wurden geteilt. Es war das Paradies.