PTBS und ganz andere Folgen
75 Jahre nach Hiroshima: „Die Diskriminierung wird nicht verschwinden“
Die einen haben riesige Erinnerungslücken, andere quälen grausame Details noch Jahrzehnte später. Sie haben Flashbacks, aber auch Flashforwards, sagt der Tokioter Psychiater Masao Nakazawa. Er erklärt auch, warum die häufige Diagnose „posttraumatisches Belastungssyndrom“ bei Überlebenden der Atombombe nicht ausreicht.
Veröffentlicht:Tokio. Als am Morgen des 6. August knapp 600 Meter über Hiroshima die amerikanische Uranbombe „Little Boy“ explodierte, war Nobuo Miyake gerade knapp zwei Kilometer vom Hypozentrum entfernt. Er weiß noch, dass er kurz danach seine Mutter verletzt im zerstörten Haus von Verwandten gefunden, sie aus den Trümmern gezogen hat und mit ihr auf dem Rücken vor den Flammen geflohen ist.
Was passierte, bis er sich abends vor dem Hauptbahnhof von Hiroshima wiederfand, dort klafft eine riesige Lücke in seiner Erinnerung. Wie ihm, geht es vielen Opfern. Andere werden dagegen noch heute von quälenden Einzelheiten verfolgt.
Friedensbotschaften und Appelle
75 Jahre sind seit dem Abwurf der ersten Atombombe der Menschheit auf eine Stadt vergangen, drei Tage später folgte die zweite und letzte Atombombe auf Nagasaki.
Wie jedes Jahr werden bei Gedenkfeiern Überlebende Friedensbotschaften verlesen und an die Welt appellieren, Atomwaffen abzuschaffen. Sie wollen die Erinnerung wachhalten, damit niemand ähnlich schlimme Erfahrungen wie sie durchmachen muss. Derzeit lagern weltweit 13.400 Atomwaffen in den Arsenalen von neun Atommächten.
Der Psychiater Masao Nakazawa hat mehrere Jahrzehnte die Psychiatrie-Abteilung am Krankenhaus Yoyogi im Zentrum von Tokio geleitet; noch heute hilft der 83-Jährige aus, wenn Personalmangel herrscht – seit der Coronavirus-Pandemie seltener.
Die Besonderheit des Spitals ist eine spezielle Abteilung für Hibakusha. So nennt man in Japan Opfer von Atomkatastrophen – zunächst für Opfer der Atombomben, später für direkt Betroffene der Havarie im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi 2011.
75 Jahre Hiroshima
„Wir werden Euch im Atomkrieg nicht helfen können!“
Begriff des PTBS greift zu kurz
Während sich Nakazawa zunächst auf Schizophrenie spezialisierte, bekam er durch seine Arbeit in Yoyogi einen besonderen Einblick in die psychische Lage der Hibakusha, und wie sich diese im Lauf der Jahre veränderte. Häufig würde deren Zustand als „posttraumatische Belastungsstörung“ (PTBS) bezeichnet – ein Begriff, der auch die Betroffenen verärgere, da er zu kurz greife, sagt Nakazawa.
Masao Nakazawa
Geboren am 16. Januar 1937
Der Psychiater ist bekannt als Experte für Schizophrenie, hat eine über 50 Jahre laufende Studie dazu betreut und mehrere Bücher verfasst.
Er ist in Gunma geboren, eine ländliche Präfektur nordwestlich von Tokio. Weil seine Familie wenig Geld hatte, konnte er nicht an die Elite-Universität Tokio zum Studium, sondern absolvierte sein Studium stattdessen an der medizinischen Fakultät der Universität Gunma.
Danach arbeitete er im Krankenhaus Saku in der Präfektur Nagano, bevor er die Psychiatrie-Abteilung am Krankenhaus Yoyogi im Zentrum von Tokio übernahm. Er hilft heute noch dreimal die Woche dort aus.
Die Besonderheit des Krankenhauses ist, dass es dort eine spezielle Abteilung für Hibakusha gibt, Überlebende der Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima, aber auch der Havarie im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi.
Nakazawa engagiert sich bei der Tokioter Organisation Hidankyo, die die Interessen der Hibakusha vertritt.
Diese fühlten sich in ihrer gesamten Existenz beeinträchtigt, wegen eines Mixes aus körperlichen Symptomen, Stigmata im Alltag und mentalen Problemen. Sie empfänden ihr gesamtes „Dasein“ durch die Bombe deformiert, sagt Nakazawa im Interview mit der „Ärzte Zeitung“und verwendet den deutschen Fachbegriff.
Er hat wie viele japanische Ärzte seiner Generation die Fachbegriffe auf Deutsch gelernt. „Dasein“ geht auf den Begründer der Daseinsanalyse, den Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker Ludwig Binswanger (1881-1966), zurück.
Die japanische Regierung habe die Betroffenen allein gelassen, sagt Nakazawa, nicht nur damals, sondern auch noch heute. In den Schulen würde immer weniger dazu unterrichtet, viele junge Leute wüssten darüber kaum etwas.
Dann dauerte es zum Beispiel über 40 Jahre, bis eine Gruppe von über 80 Personen, die damals radioaktiv verseuchtem „schwarzen Regen“ ausgesetzt, aber außerhalb designierter Zonen waren, als Hibakusha anerkannt wurden.
Dank des historischen Urteils Ende Juli stehen ihnen nun Zahlungen für medizinische Behandlungen zu. Ein ähnliches Verfahren, das koreanische Zwangsarbeiter anstrengten, führte vor fünf Jahren ebenfalls zur Anerkennung.
Gedächtnislücken sind normal
Menschen aus Hiroshima und Nagasaki hatten es nach der Katastrophe schwer in der Gesellschaft. Man glaubte, sie seien grundsätzlich schwächer und kränklicher. Eheversprechen wurden gelöst, bereits zugesagte Stellen abgesagt. Diskriminierung sei nicht generell schlecht, sagt Nakazawa, sie gehöre zur menschlichen Natur, die stets nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu anderen Menschen suche.
Er argumentiert, dass diskriminiert zu werden besser sei als ignoriert zu werden, wenn man vom Menschen zum Tier oder Objekt werde. „Diskriminierung wird nicht verschwinden“, sagt der Psychiater. Die einzige Chance, diese zu reduzieren, sei über die Verbreitung von Wissen.
Das Schlimmste für die Betroffenen seien die seelischen Wunden, sagt Nakazawa, der zu dem Thema auch ein Buch geschrieben hat. Wenn man sie allerdings frage, was sie genau meinten, könnten viele nicht antworten – oder fingen an, den Tag der Bombe zu beschreiben, den Verlust von Freunden und Familie, die Auswirkungen auf ihr weiteres Leben. „Das bedeutet, man kann Körper, Geist und Leben nicht trennen.“
20 Prozent haben Gedächtnislücken
Nakazawa beobachtete, dass sich die meisten Patienten erst an äußere Umstände wie die Zerstörung der Stadt, in der drei Tage schwere Brände wüteten, erinnerten. Erst im Laufe der Zeit würden die Erzählungen persönlicher. Gedächtnislücken seien normal, sagt Nakazawa.
Den Anteil von Personen, die wie Miyake sehr große Lücken haben, schätzt er auf bis zu 20 Prozent. Hinzu komme, dass sich mit dem Alter bei Menschen Erinnerungen veränderten: Den einen falle auf einmal mehr ein, andere könnten noch weniger abrufen.
Manche würden es jedoch nie schaffen, über das Erlebte zu sprechen. Stattdessen schrieben sie es zum Beispiel dem Ehemann oder der Schwester zu. „Es ist ein Abwehrmechanismus, weil sie sonst fürchten, zugrunde zu gehen.“ Über Traumata zu sprechen, kann Flashbacks verursachen.
Laut eines einfachen Screening-Tests (revidierte „Impact of Event-Skala“, IES-R) erlebten etwa zwischen 30 und 40 Prozent der Überlebenden der Atombomben mindestens einmal die Woche Flashbacks, sagt Nakazawa. Je näher die Person am Hypozentrum war, desto höher sei die Inzidenz.
Die Erinnerung bleibt
Manche Überlebende nehmen das Risiko der Flashbacks trotzdem auf sich, weil sie eine Mission haben. Michiko Kodama kämpft wie viele Hibakusha für die Abschaffung von Atomwaffen und hat dazu wie Miyake erst später in der zweiten Lebenshälfte den Weg der Kataribe gewählt.
Auch diese Zeitverzögerung sei typisch nach traumatischen Erlebnissen, sagt Nakazawa. Als Zeitzeugen-Erzähler berichten sie vor Schulklassen, Studenten, Firmen und Universitäten vom Tag der Bombe und den Folgen.
Wie nah an der Oberfläche vieles für Kodama noch ist, zeigt sich im Interview mit der „Ärzte Zeitung“, als ihre Stimme bricht, wenn sie von einem schwer verbrannten kleinen Mädchen spricht, das sie damals sah.
„Meine Augen haben die Hölle auf Erden gesehen, und so sehr ich das vergessen möchte und mich nicht mehr daran erinnern möchte, bleibt (die Erinnerung) doch immer da“, sagt die 82-Jährige.
Flashforward auf den eigenen Tod
Ein weiteres Phänomen, das bei Überlebenden vor allem in den ersten ein bis zwei Jahren danach aufgetreten sei, seien nicht Flashbacks, sondern Flashforwards, erklärt Nakazawa. Die Betroffenen würden sich ihren eigenen Tod so ausmalen, wie sie ihn bei Freunden und Verwandten mitansehen mussten.
Auch Kodama hat so etwas erlebt. Am Haus der damals Siebenjährigen tauchte etwa drei Wochen nach der Bombe ein zehnjähriger Cousin auf, äußerlich kaum verletzt. Er hatte nur ständig Nasenbluten und Durchfall – wie Kodama.
Als er wieder einmal aus der Toilette kam, lief Blut aus der Nase, dann spuckte er einen riesigen blutigen Klumpen aus und brach auf der Stelle tot zusammen. „Ich bin danach monatelang meiner Mutter nicht von der Seite gewichen“, erinnert sich Kodama. „Ich hatte so Angst, dass ich genauso sterbe.“
Menschen und Atomwaffen können nicht gemeinsam existieren, sagt sie. Deren reine Existenz bedeute, dass so eine Tragödie wieder passieren werde.
„Seit Jahren sage ich Menschen im In- und Ausland: Die Bombe hat uns weder erlaubt, als menschliche Wesen zu sterben, noch als menschliche Wesen zu leben.“ Atomwaffen müssen abgeschafft werden, fordert sie. „Deswegen erzähle ich meine Geschichte – auch wenn ich mich nicht daran erinnern will.“