75 Jahre Hiroshima

„Wir werden Euch im Atomkrieg nicht helfen können!“

Vor 75 Jahren hat die Menschheit erstmals gegen Menschen eine Atombombe eingesetzt: Um 8.16 Uhr morgens zerstörte „Little Boy“ Hiroshima. Zehntausende waren sofort tot. Seit 40 Jahren erhebt sich die Ärzteorganisation IPPNW gegen die Gefahren des Atomkriegs. Im Gespräch erinnert sich einer ihrer Mitbegründer, der Frankfurter Internist Ulrich Gottstein. Mit seinen fast 94 Jahren kämpft er nach wie vor für eine atomwaffenfreie Welt.

Denis NößlerVon Denis Nößler Veröffentlicht:
Atompilz über Hiroshima: Das Foto wurde rund eine Stunde nach dem Abwurf von „Little Boy“ aus einer US-Militärmaschine aufgenommen.

Atompilz über Hiroshima: Das Foto wurde rund eine Stunde nach dem Abwurf von „Little Boy“ aus einer US-Militärmaschine aufgenommen.

© AP Photo/U.S. Army via Hiroshima Peace Memorial Museum / picture alliance

Ärzte Zeitung: Herr Professor Gottstein, als am 6. August 1945 um 8.16 Uhr morgen über Hiroshima die Menschheit die erste Atombombe als Kriegswaffe eingesetzt hat, war es in Europa kurz nach Mitternacht. Sie waren zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt und – in Europa war der Krieg gerade vorbei – in britischer Kriegsgefangenschaft. Wann haben Sie damals von den Atombombenabwürfen erfahren? Und überhaupt: War Ihnen seinerzeit sofort klar, was da vor sich gegangen ist, welche Tragweite und Relevanz das hat?

Ulrich Gottstein

Ulrich Gottstein

© Andreas Schoelzel / IPPNW

Professor Ulrich Gottstein: Wir erfuhren von der englischen PoW-Leitung (der Lagerleitung, Anm. d. Red.), dass nun nicht nur auch die Sowjetunion Japan den Krieg erklärt habe und in die Mandschurei einmarschiert sei, sondern auch die Amerikaner eine neue Riesenbombe auf eine japanische Stadt geworfen hätten.

Ich dachte, es sei wahrscheinlich eine noch gewaltigere Luftmine, wie sie die US-Flieger ja auf Berlin und andere Städte geworfen hatten. Von einer Atomwaffe erfuhren wir nichts, wir ahnten ja auch nicht, dass so etwas in der Konstruktion war. Übrigens hatten auch die deutschen Atomphysiker ja zuerst die Nachricht nicht geglaubt.

Wann ist denn klar geworden, dass es sich bei den Bombenabwürfen um Atombomben gehandelt hat?

Gottstein: Ich weiß nicht mehr, nach wie vielen Wochen oder Monaten wir erfuhren, dass es sich um eine neue Technik, nämlich eine Atombombe gehandelt habe. Dass auch noch eine zweite Atombombe drei Tage später auf eine andere Stadt abgeworfen wurde, erfuhren wir nicht. Das hat uns vielleicht auch gar nicht interessiert, wir ahnten nichts von der radioaktiven Massenvernichtungswaffe.

Wir waren davon überzeugt, dass nun nach Kriegsende es keinen Atomkrieg geben werde. Über das ganze Ausmaß dieser Kriegs- und Menschheitsverbrechen erfuhr ich erst stückweise aus den Medien und Arztberichten nach Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Sommer 1946.

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Herr Gottstein, ab 1947 haben Sie Medizin studiert. 1952 folgten Staatsexamen und Promotion. Anschließend die Ausbildung in der Inneren Medizin mit Facharztanerkennung und Habilitation 1960 an der Universität München. Bald danach Leitender Oberarzt an der Medizinischen Universitätsklinik Kiel. 1966 folgte in Kiel die Professur für Innere Medizin. Von 1971 bis zu Ihrer Pensionierung 1991 waren Sie an der Medizinischen Klinik des Bürgerhospitals in Frankfurt am Main Chefarzt. War die Gefahr eines Atomkriegs schon früh ein Thema in Ihrer ärztlichen Laufbahn, oder wann ist Ihnen klargeworden, dass Sie sich damit beschäftigen, sich engagieren müssen, dass Atombomben Waffen sind, die „mit einem Knopfdruck alles Leben auf der Welt vernichten“ können?

Gottstein: Es war 1980/81, dass ich aktiv wurde in der Internationalen Ärztevereinigung zur Verhütung eines Atomkrieges, der IPPNW, sowohl national, wie international. Mir war klar geworden, dass wegen der Todfeindschaft zwischen der Sowjetunion und Amerika und der massiven Atomwaffenrüstung ein Atomkrieg nur verhütet werden könne, wenn die Menschheit sich gegen Atomwaffen empören würde.

Die ärztliche Aufgabe bedeutet auch Verhütung: vor dem Atomtod und schrecklichem Leiden.

Mir war außerdem klar, dass die ärztliche Aufgabe nicht nur die Betreuung von den üblichen Patienten bedeutet. Sie bedeutet auch, ähnlich wie bei Seuchen, die Verhütung: Hunderttausende von unschuldigen Menschen vor dem Atomtod und den schrecklichen Leiden zu bewahren.

Im Gegensatz zu den meisten Krankheiten gibt es bei der massiven atomaren Bestrahlung keine ärztlichen Hilfen und Maßnahmen zur Gesundung, deshalb mussten wir die total unwissende Weltbevölkerung aufklären und sagen: „Wir werden Euch nicht helfen können!“

In einem früheren Interview hatten Sie einmal auf die Bergpredigt verwiesen: „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen.“ (Mt 5, 9) Welche Bedeutung hat dieser Vers für Sie, vielleicht auch mit Blick auf Ihre Berufswahl?

Gottstein: Ich bin und war seit meiner frühesten Jugend ein gläubiger Christ und in der NS Zeit Mitglied der Bekennenden Kirche, in der Opposition zum Hitlerismus und den „Deutschen Christen“, die Hitler hörig waren. Die Bekennende Kirche folgte der Bergpredigt Jesu und war „christlich pazifistisch“. Begründer waren ja unter anderen die Berliner Pfarrer Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer und Helmut Gollwitzer. Pazifistisch heißt Frieden stiften (pacem facere), das aber ohne brutale Kriegsgewalt.

Eine Stadt, dem Erdboden gleichgemacht: Hiroshima im August 1945

Eine Stadt, dem Erdboden gleichgemacht: Hiroshima im August 1945

© picture alliance / akg-images

1981 folgte die Gründung der deutschen IPPNW-Sektion. Sie waren Initiator und Mitbegründer und sind seit Jahren Ehrenvorstandsmitglied. Wie kam es dazu, was war der maßgebliche Impuls? Hatten Sie womöglich direkt Kontakt zu den Gründern Bernard Lown und Jewgeni Tschasow?

Gottstein: Ich kannte Professor Lown als berühmten Kardiologen und Erfinder der Elektrodefibrillations-Therapie des Herzflimmerns und somit der Rettung vor dem Herztod. Er begründete in den USA die IPPNW und gewann den sowjetischen Kardiologen Tschasow zur Mitarbeit.

Ich wurde zu einer Beratung in kleinem Kreis von zehn internationalen Ärzten eingeladen und erkannte die Ethik und den Humanismus von Lown und Tschasow und der anderen. Daher nahm ich die Aufforderung an, in Deutschland eine deutsche IPPNW-Sektion zu gründen. Das gelang mir in Kooperation mit weiteren neun Ärztinnen und Ärzten.

1985, nur fünf Jahre nach ihrer Gründung, hat die IPPNW den Friedensnobelpreis erhalten. Sie hatten nach der Verleihung in Oslo eine der Dankesreden gehalten. Wie haben Sie die Ehrung damals empfunden? Kam vielleicht die Hoffnung auf: Jetzt muss man uns hören, jetzt kommt die Welt an der Ächtung von Atomwaffen nicht mehr vorbei?

Gottstein: Von der deutschen Sektion nahmen Professor Horst-Eberhard Richter, Professor Karl Bonhoeffer und ich an der Verleihungszeremonie teil ...

… Karl Bonhoeffer war der Enkel des gleichnamigen Neurologen und Neffe von Dietrich Bonhoeffer.

Gottstein: Richtig. Ich war von den internationalen IPPNW-Sektionen und speziell von der norwegischen Sektion gebeten worden, im Osloer Rathaus eine Dankesrede zu halten. Die offiziellen Nobelpreisreden in der Universität hielten die Professoren Lown und Tschasow, die für die IPPNW die Diplome in Empfang nahmen. Wir waren für die Verleihung des Friedensnobelpreises dankbar, weil mit ihm unser großes internationales Bemühen um die Verhütung eines Atomkriegs und für die Beendigung des atomaren Wettrüstens gewürdigt wurde.

Kohl und Geißler verleumdeten uns, moskauhörig oder der verlängerte Arm des Weltkommunismus zu sein.

Von der schwarz-gelben Bundesregierung gab es seinerzeit keine Blumen für die IPPNW. Kanzler Helmut Kohl und Heiner Geißler sollen sogar beim Nobelkomitee gegen die Preisvergabe interveniert haben. Sie sollen die IPPNW als „kommunistisch unterwandert“ bezeichnet haben.

Gottstein: Ja, das ist wahr. Helmut Kohl und Heiner Geißler wollten verhindern, dass nicht nur der amerikanische Professor Lown, sondern auch der sowjetische Professor Tschasow die Nobelpreise für die Gesamt-IPPNW erhalten sollten. Sie wollten nicht zugeben, dass die deutsche IPPNW und alle internationalen IPPNW-Sektionen des Ostens und Westens, unabhängig von den Ideologen der jeweiligen Regierungen, sich gegen alle Atomwaffen richteten.

Kohl und Geißler verleumdeten speziell die deutsche Sektion, moskauhörig oder der verlängerte Arm des Weltkommunismus zu sein, weil wir energisch die Bevölkerung über die Hunderte amerikanischer Atomminen an der deutsch-deutschen Grenze und über die Hunderten Atomkurzstrecken- und Mittelstreckenraketen und Atombomben aufklärten, und über die sowjetischen „drüben“ in der DDR.

Hat Sie diese „Gegnerschaft“ seitens der deutschen Bundesregierung damals geschmerzt?

Gottstein: Ja, und empört! Wir haben uns in unserem ärztlich-humanitären Engagement nicht bremsen lassen, sondern haben weiter aktiv informiert. Ich selber führte im Abendprogramm des ZDF ein Streitgespräch mit Heiner Geißler.

Herr Gottstein, in der Deklaration von Genf heißt es: „Als Mitglied der ärztlichen Profession gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen.“ Heißt das letztlich nicht, dass alle Ärztinnen und Ärzte qua Profession gegen Waffen und für den Pazifismus eintreten müssten?

„Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor, nein, bereite Frieden vor.“

Gottstein: Das ist wohl eine irreale Frage. Schön wäre es, wenn alle Politiker sich bemühen würden, Konflikte friedlich zu lösen, und nicht nach der Devise wirkten „si vis pacem para bellum“, sondern „... para pacem“. „Wenn du Frieden willst, bereite Krieg vor, nein, bereite Frieden vor.“ Es wäre wichtig, dass wir und die anderen Länder nicht nur Kriegsministerien, die sie Verteidigungsministerien nennen, hätten, sondern auch Friedensministerien.

Auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel sind nach wie vor US-Atomwaffen stationiert. Deutschland beteilige sich damit an der „nuklearen Teilhabe“ der NATO. Das bedeutet nach Meinung der IPPNW die Teilnahme an Drohung und am potentiellen Atomwaffeneinsatz. Jetzt sollen 12.000 US-Soldaten aus Deutschland abziehen, und wer weiß, was mit den Atomwaffen passiert. Doch selbst wenn sie aus Deutschland abtransportiert würden – die Bomben bleiben ja in der Welt und mit ihnen die Gefahr atomarer Vernichtung. Der Physiker und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker schrieb einmal: „Kann man sich auf Bomben verlassen, die zu werfen man im Grunde nicht wagen darf? Auf die lange Sicht müssen wir die Bomben fürchten, schon auf die kurze Sicht müssen wir die Mentalität fürchten, die sich auf die Bomben verlässt.“ Herr Gottstein, wie steht es um die Mentalität der Menschheit heute, müssen wir uns fürchten? Oder anders gefragt: Glauben Sie, dass Ihre Enkel und Urenkel eine atomwaffenfreie Welt erleben werden?

Gottstein: Diese Frage enthält unsere große Sorge, weil ich leider Gottes nicht glaube, dass unsere Enkel und Urenkel in einer atomwaffenfreien Welt werden leben können. Dennoch, oder gerade deswegen, muss ich weiter in der IPPNW und in der ICAN arbeiten, damit die Atomwaffen geächtet werden, so wie der Besitz von Chemiewaffen oder tödlichen Viren und Bakterien geächtet und verboten wurden.

Herr Gottstein, vielen Dank für Ihre Zeit und alles Gute für Sie!

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