Abhängig von China
Arzneiwirkstoffe aus Asien: Experten fordern Problembewusstsein
Diskussion bei Pro Generika: Europa hängt nicht nur bei Erdgas am Tropf, auch bei Medikamentenwirkstoffen gibt es perspektivisch toxische Einfalt. Fachleute sehen aber Chancen zum Umsteuern.
Veröffentlicht: | aktualisiert:Berlin. Rund 60 Prozent der Arzneimittelwirkstoffe werden aktuell in Asien hergestellt, überwiegend in China und Indien. Untersuchungen des Branchenverbands Pro Generika zeigen, dass noch zu Beginn des Jahrtausends zwei Drittel der hierzulande benötigten Wirkstoffe in Europa in Europa zugelassen wurden. Inzwischen hat sich das Verhältnis umgekehrt. 63 Prozent der Wirkstoffzertifikate werden in Asien gehalten.
Die Folgen der Abhängigkeit von russischem Gas vor Augen warnen Fachleute nun davor, die Augen vor der Abhängigkeit von pharmazeutischen Wirkstoffen aus China zu verschließen. Schließlich drohe ein militärischer Konflikt zwischen Taiwan und der Volksrepublik mit weitreichenden Folgen für die wirtschaftlichen Beziehungen.
Ausmaß der Abhängigkeit nicht bekannt
Bei Blutdrucksenkern und Antibiotika sei die Abhängigkeit von Produkten aus China bedrohlich, betonte Peter Stenico, Vorstandsvorsitzender von Pro Generika und Deutschland-Chef von Sandoz. Bei Biosimilars hingegen bestehe das Problem nicht. Gleichwohl sei „noch zu wenig Panik im System“. In den Unternehmen und der Politik werde mehr auf die Kosten geschaut als auf die Diversifizierung des Produktportfolios. „Europa muss sich mehr zutrauen“, forderte Stenico.
Ab 2024 werde es kritisch, sagte Dr. Tim Rühlig von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Dann erreiche China möglicherweise die Fähigkeit, Taiwan anzugreifen. Insgesamt werde die Abhängigkeit von China überschätzt. Etwa zwei bis drei Prozent der Bruttowertschöpfung und eine Million Arbeitsplätze in Deutschland könnten betroffen sein.
Problematischer sei allerdings, dass die strategischen Punkte, an denen Abhängigkeiten bestehen und bestehen könnten, noch nicht abschließend identifiziert seien und hier nicht gegengesteuert werde. Dem Hamburger Hafen zu untersagen, ein Terminal an China zu verkaufen, sei immerhin ein erster Schritt.
Für ein paar „Pfennige“ mehr
Rühlig verwies darauf, dass der Staat im Gesundheitswesen in Deutschland eine starke Rolle spiele, alleine schon über die Gesetzliche Krankenversicherung. Dass das Gesundheitswesen bei der Wirkstoffbeschaffung perspektivisch in Risiken laufe, habe Gesundheitsminister Professor Karl Lauterbach (SPD) allerdings noch nicht erkannt.
Einen Perspektivenwechsel forderte Dr. Kai Rossen. In Europa würden komplette Versorgungsketten geopfert, um ein paar „Pfennige“ zu sparen. Den Vorteil daraus könne er nicht erkennen, sagte der Vorstand und Forschungsdirektor des europäischen Wirkstoffherstellers EUROAPI, eine Unternehmenstochter von Sanofi.
Die derzeitige Situation sei nur zu ändern, wenn man von der reinen Preisbetrachtung wegkomme. Eine Möglichkeit dazu sei zum Beispiel, die rohstoff- und energieintensive Antibiotikaherstellung im Zuge von Green-Chemistry-Programmen zurückzuholen. Das könne zum Beispiel über politische und technologische Partnerschaften Europas mit den USA, Korea und Japan geschehen. Europa stelle mit dem pharmaindustriellen Cluster in Norditalien nach wie vor noch mehr Wirkstoffe her als China.
Der Fachjournalist Jürgen Salz von der „Wirtschaftswoche“ erinnerte daran, dass mit dem Ausbruch der COVID-Pandemie Lieferketten bei vielen Produkten, zum Beispiel Halbleitern, aber auch pharmazeutischen Wirk- und Grundstoffen eingebrochen seien. Als Lehre daraus sei „genau nichts“ geschehen. Um hier gegenzusteuern, könne er sich Anschubfinanzierungen auch für die Wirkstoffherstellung vorstellen, nicht aber Dauersubventionen. Die Unternehmen dürften nicht aus der Verantwortung entlassen werden. (af)