Wissenschaft und Politik
Deutschland sucht die neuen Pandemie-Marker
Wie umgehen mit der sich abzeichnenden vierten Corona-Welle? Wissenschafter und Politiker sind auf der Suche nach Markern, um eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Die Zahl der Neuinfektionen alleine verliert mit dem Anstieg der Impfquoten an Aussagekraft.
Veröffentlicht: | aktualisiert:Berlin. Mit steigenden Impfraten verringert sich das Gewicht der Corona-Inzidenzen. Gleichwohl braucht die Politik Anhaltspunkte, ob und wenn ja ab wann welche Alltagseinschränkungen in der sich abzeichnenden vierten Corona-Welle gelten sollen. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wird nicht müde zu betonen, dass Ziel der Corona-Politik der Regierung nach wie vor sei, eine Überlastung des Gesundheitswesens zu verhindern.
Wissenschaftler haben nun für Deutschland exaktere Daten zur Hospitalisierung von COVID-19-Patienten angemahnt. Es würden Aufnahmen gezählt, nicht aber die Verweildauer. Die Daten hierzulande seien zudem fall- und nicht personenbezogen. Es gebe Doppelzählungen, selbst bei internen Verlegungen im Krankenhaus.
„Alles, was wir wissen, haben wir vom InEK, und dessen Daten stimmen nicht mit denen des DIVI überein“, sagte Professor Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin und Mitglied des Fachbeirats beim Bundesgesundheitsministeriums bei einer virtuellen Presseveranstaltung des Science Media Centers am Dienstag. Gleichwohl gehe er davon aus, dass höhere Inzidenzen zugelassen werden könnten, ohne sofort Alltagsbeschränkungen auszurufen.
Nachlassende Impfbereitschaft
Debatte über Corona-Impfpflicht hält an
Mehr Intensivmedizin in Deutschland
Busse verwies darauf, dass es in den vergangenen beiden Wellen in Deutschland zu deutlich mehr intensivmedizinischen COVID-19-Behandlungen gekommen sei als bei den europäischen Nachbarn. Die hätten aus den Erfahrungen der ersten Welle von März bis Mai 2020 offenbar andere Schlüsse gezogen.
Während in Deutschland zwischen März und Mai 2021 zwei Prozent aller Infizierter intensivmedizinisch behandelt wurden, seien es in Spanien 1,6, in Frankreich 1,5 Prozent, in den Niederlanden 0,7 Prozent und in Dänemark und Großbritannien sogar nur 0,5 Prozent.
Als einen Grund nannte er, dass „die Wahrscheinlichkeit, dass man im Krankenhaus in Deutschland dabehalten wird“ höher sei als anderswo. Während in Dänemark die erfahrensten Oberärzte Nachtschicht schöben, seien es in Deutschland oft unerfahrene Assistenzärzte, die übergroße Vorsicht walten ließen.
Indikator Krankenhausaufnahme
Tatsächlich seien Daten zur Hospitalisierung wichtige Indikatoren, um Belastungen des Gesundheitswesens in einer sich andeutenden vierten Corona-Welle zu modellieren, betonte Professor Christian Althaus, Leiter der Forschungsgruppe Immuno-Epidemiologie an der Universität Bern.
Er gehe davon aus, dass im Winter die Inzidenzen wieder „relativ“ hoch ausfallen dürften. Sie müssten aber in ein Verhältnis zu den Neuaufnahmen in den Krankenhäusern gesetzt werden, um Aussagekraft zu gewinnen. Noch könne sich das Virus gut ausbreiten. Mit einer Art Herdenimmunität könne erst im kommenden Jahr gerechnet werden.
Welle unter älteren Menschen „unwahrscheinlich“
Wegen der hohen Impfquoten in den älteren Kohorten gehe er von einem höheren Infektionsgeschehen unter jüngeren Menschen aus, sagte Professor Andreas Schuppert, Leiter des Lehrstuhls für Computacional Biomedecine an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen.
Eine eigene Welle bei der hochaltrigen Bevölkerung halte er für „unwahrscheinlich“, sagte Schuppert. In Pflegeheimen gebe es so etwas wie Herdenimmunität. Problematisch seien die Altersgruppen zwischen 60 und 80 Jahren.
Sie lebten nicht in Heimen und nähmen normal am Leben teil. Ohne Impfung liefen sie das höchste Risiko, mit COVID-19 auf einer Intensivstation zu landen. Die Sommermonate sollten genutzt werden, um die Datenerfassung zu optimieren.