Anklage wegen Vergewaltigung und Missbrauch
Beim Prozess gegen einen französischen Chirurgen geraten auch die Kammern unter Druck
Ein französischer Chirurg soll über Jahrzehnte Kinder missbraucht haben. Geklärt werden muss auch die Frage, warum seine Taten so lange nicht entdeckt wurden.
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Zahlreiche Ermittlungsakten stapeln sich im Gerichtssaal von Vannes.
© Lafargue Raphael / ABACA / picture alliance
Vannes. Im südbretonischen Vannes steht seit dem 24. Februar der ehemalige Kinderchirurg Dr. Joël le Scouarnec vor Gericht. Er soll in mehr als 30 Jahren mindestens 299 seiner kleinen Patientinnen und Patienten sexuell missbraucht oder vergewaltigt haben. Erwischt wurde er erst 2017, nachdem er die sechsjährige Tochter seiner Nachbarn sexuell angegriffen hatte. Wegen dieses und weiterer Missbrauchsfälle war der Arzt 2020 bereits zu 15 Jahren Haft verurteilt worden. Im Fokus steht jetzt auch die Ärztekammer, die nach Meinung vieler Ärzte viel zu lang weggeschaut hat.
Der Gerichtssaal von Vannes ist viel zu klein, um allen Klägern und Nebenklägern Platz zu bieten. Im Gerichtssaal sitzen nur ihre Anwälte, während alle anderen die Verhandlung per Video verfolgen können. Auf der Anklagebank beantwortet der 74-Jährige mit eintöniger Stimme die Fragen der Richter. Viele seiner Opfer sagen, dass sie die Verhandlungssitzungen kaum noch ertragen können. Kürzlich gestand er im Gerichtssaal vor seinem eigenen Sohn, dass er auch seine Enkelin vergewaltigt habe. 2004 musste sich le Scouarnec zum ersten Mal vor der Justiz verantworten.
Merkwürdiges Verhalten wurde registriert
Bei einer weltweiten Razzia gegen einen internationalen Kinderpornoring entdeckte das amerikanische FBI, dass der Chirurg mindestens vier Mal mit seiner Kreditkarte Videos bezahlt hatte. Die US-Behörden gaben den Fall an Frankreich weiter und ein paar Monate später wurde le Scouarnec zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Danach verließ er seine Stelle im Krankenhaus der Hafenstadt Lorient und arbeitete in kleineren Städten.
Weder die Ärztekammer des Départements du Morbihans noch Ärzte oder Verwaltungen der kleineren Kliniken hielten ihn von Patienten fern. Jedoch empfanden einige von ihnen sein Verhalten und vor allem seine Äußerungen über Sexualität und Kinder als merkwürdig. Befremdlich kam einigen auch die lange Zeit vor, die er manchmal ohne medizinische Begründung allein mit Patienten verbrachte. Ein Psychiater, der le Scouarnecs frühere Verurteilung zufällig entdeckt hatte, meldete ihn bei den regionalen Gesundheitsbehörden. Passiert ist danach jedoch nichts.
Erst 2017 brach der Skandal aus, nachdem der Chirurg von den Eltern seiner kleinen Nachbarin angezeigt und endlich gefasst wurde. Daraufhin wurde er sofort vom Dienst suspendiert. Kurz darauf reichten zwei seiner Nichten Klagen wegen Vergewaltigung gegen ihn ein. Seit Mai 2017 sitzt er in Haft. Weitere Ermittlungen zeigten, dass das Ausmaß seiner Taten viel schlimmer als ursprünglich angenommen war.
Während einer Hausdursuchung entdeckte die Polizei seine Tagebücher, in denen er seit 1985 sorgfältig alle seine Missbrauchstaten und Vergewaltigungen mit vielen Details und Kommentaren beschrieben hatte. Insgesamt wurden 299 Fälle dokumentiert. Allerdings gehen die Ermittler davon aus, dass es eine hohe Dunkelziffer geben könnte.
Nationale Ärztekammer ist Nebenklägerin
In den meisten Fällen ging es um kleine Kinder, denen le Scouarnec erklärt hatte, dass seine Berührungen Teil der normalen Behandlung seien. Andere Kinder waren ganz oder teilweise unter Narkose. Ursprünglich hätte der Prozess Anfang 2020 beginnen sollen. Er wurde aber wegen der COVID-Pandemie vertagt sowie aufgrund einer Berufung des Angeklagten, die erst Ende 2021 abgelehnt wurde. Dem Chirurg drohen 20 Jahre Haft.
Auch die Nationale Ärztekammer (Conseil National de l’Ordre des Médecins, CNOM) ist Nebenklägerin in dem Prozess. Sie will verstehen, wie le Scouarnec so lang unentdeckt bleiben konnte und welche Fehler oder Missstände die Kammer des Départemens du Morbihans damals womöglich begangen hat.
Statt mehr Klarheit zu schaffen, hat diese Entscheidung aber den alten Streit zwischen der Kammer und den Kammergegnern wieder aufflammen lassen. Unterstützt von einigen kammerskeptischen Vereinen werfen viele Ärzte dem CNOM vor, jahrelang weggeschaut und geschwiegen zu haben. Nicht zuletzt im Namen einer dubiosen „Kollegialität“, die laut den Kritikern zu einer echten „Omerta“ geworden sei.
Diese Kritik weist der CNOM zurück und bezichtigt stattdessen die damaligen Vorstände der lokalen Kammer, versagt zu haben. Diese erklären, dass sie ab 2005 den CNOM über die erste Verurteilung informiert hätten und dass dieser nicht reagiert habe. Das Urteil gegen Joël le Scouarnec wird frühestens im Juni erwartet.