Pflegereform

Die Unvollendete

Trotz aller Kritik: Die Pflegereform wird sich positiv auf die Versorgung der Menschen auswirken. Ein riesiges Problem aber löst sie nicht.

Anno FrickeVon Anno Fricke Veröffentlicht:
Die Pflegereform wird einige Vorteile bringen. Alle Probleme löst sie allerdings nicht.

Die Pflegereform wird einige Vorteile bringen. Alle Probleme löst sie allerdings nicht.

© Gina Sanders / fotolia.com

BERLIN. Trotz aller - berechtigter - Kritik. Die Pflegereform als Ganzes wird sich positiv auf die Versorgung der Menschen auswirken. Sie ist Kernstück eines altengerechten Umbaus der Infrastruktur.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, warum. Ohne die soziale Pflegeversicherung gäbe es die moderne Pflegeinfrastruktur nicht, über die Deutschland verfügt. Darauf hat erst Anfang des Jahres der "Vater" der Pflegeversicherung Norbert Blüm hingewiesen.

Viele der meist mittelständisch geprägten Pflegeeinrichtungen und Pflegedienste wären ohne diesen gesetzlich verordneten Kapitalzufluss nicht entstanden, kämen somit auch nicht als Arbeitgeber in Frage. Aus der früheren Fürsorge hat sich ein Produktionsfaktor entwickelt, eine viele Milliarden Euro schwere Branche. Diese Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen.

"Altenförderungsgesetz"

Vor einigen Jahren hat das Bundesverfassungsgericht jedem Kind ab einem Jahr das Recht auf frühkindliche Förderung in einer Kindertagesstätte zugestanden. Die Neuerungen wurden im Kinderförderungsgesetz eingeführt. Inzwischen nähert sich der Ausbau der Betreuungslandschaft für die Kleinen seiner Vollendung.

Die erste Stufe der Pflegereform, die seit Anfang dieses Jahres in Kraft ist, kann als "Altenförderungsgesetz" durchgehen. Die Verdopplung der Leistungen für Tagespflege wird zusätzlich zu den Einrichtungen der Betreuung und Pflege von körperlich beeinträchtigten Menschen eine Betreuungslandschaft auch für diejenigen Menschen schaffen, die körperlich noch gut beieinander sind, die aber aufgrund einer Demenz Hilfe brauchen wie die Kita-Kinder.

Noch ist dafür einige Jahre Zeit. Die Baby-Boomer sind noch ein paar Meter von der Schwelle zur Pflegebedürftigkeit entfernt. Die ab 2017 eingesammelten Milliarden könnten knapp reichen, rechtzeitig die Pflege- und Betreuungsinfrastruktur so weit auszubauen, dass auch die an einer Demenz erkrankten Menschen darin unterkommen können.

So lautet die eine Sicht der Dinge.

Am Fachkräftemangel ändert die Reform nichts

Es scheint paradox. Die Bundesregierung verabschiedet die größte Reform der Sozialversicherung seit 20 Jahren, und ausgerechnet aus den Reihen der Sozialverbände kommen die schärfste Kritik und die deutlichsten Mahnungen an die Regierung.

Die Sorgen der Praktiker sind berechtigt. Die Pflegereform bleibt eine große Unvollendete, auch nach dem Beschluss von Angela Merkels Ministerrunde für die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs und eines dementsprechend angepassten Begutachtungsverfahrens.

Am Fachkräftemangel ändert die Reform zunächst nichts. Dafür bedarf es unter anderem einer Art Satellitengesetzgebung. Das Familienministerium arbeitet an einem Pflegeberufegesetz, das die Pflegeberufe untereinander durchlässiger und damit attraktiver machen soll. Aber dieses Gesetz gibt es noch nicht.

Es gibt auch kein Einwanderungsgesetz, das die Rekrutierung ausgebildeter Fachkräfte aus dem Ausland oder - warum nicht? - aus den Reihen der Flüchtlinge ermöglichen würde. Die Transparenz in Sachen Qualität und damit einen schärferen Blick auf die Notwendigkeit anderer Pflegestellenschlüssel hat die Koalition auf die lange Bank geschoben.

Mit Absicht: Den Heimen gleichzeitig die Umstellung auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues Bewertungssystem verordnen, wollte die Koalition nicht.

Die Agenda ist auf Kante genäht

Mit gutem Grund. Schon die aktuelle Agenda ist auf Kante genäht. Die zweite Stufe der Pflegereform soll eigentlich zum Jahreswechsel 2017 zünden. Sie gilt dem Kabinett sogar als "eilbedürftig".

Allerdings müssen sich sowohl die Medizinischen Dienste als auch die Heime auf die neue Welt des den Grad der Selbstständigkeit berücksichtigenden Pflegebedürftigkeitsbegriff einstellen. Das kann dauern.

Bis in die inneren Kreise der Koalition hinein gilt daher als ausgemacht, dass die Reform an einer Verspätung auf keinen Fall scheitern soll. "Wenn die Beteiligten im Verlauf der Anhörungen sagen, wir brauchen drei oder vier Monate mehr, dann geht das auch", heißt es dazu aus Regierungskreisen.

Das ist in Ordnung. Schließlich geht es um die Pflege von Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen. Die sollten keinem übers Knie gebrochenen System ausgesetzt werden.

Flüchtigkeitsfehler könnten die bisher vorhandene Akzeptanz der Pflegereformen einschließlich der mit 0,5 Beitragssatzpunkten größten Beitragserhöhung in einer Sozialversicherung schmälern.

Was gar nicht passieren darf ist, dass sich Gerechtigkeitslücken auftun. Zum Beispiel, weil die Pflegekräfte in einem Bundesland schlechter bezahlt werden als in einem anderen und sich schon allein deshalb rar machen.

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Kommentare
Brigitte Bührlen 24.08.201509:30 Uhr

Was wird unter "Pflege" verstanden?

Wenn unter "Pflege" nur die technische, die professionelle Pflege gegen Entgelt verstanden wird, dann ist Herrn Frickes Analyse stimmig.

Problematisch wird es, wenn man sich bewusst macht, dass der überwiegende Anteil einer ganzheitlichen, in 24 Stunden an 365 Tagen erbrachten Pflege und Begleitung unentgeltlich vom persönlichen Umfeld, den "pflegenden Angehörigen" erbracht wird. Die professionelle Dienstleistung "Pflege gegen Entgelt" wird im ambulanten wie im stationären Bereich minuten- bzw stundenweise dazu gekauft.
Mangels einer fehlenden Lobby von uns Bürgern für uns selbst konnte sich ein nahezu ausschließlich an ökonomischen Aspekten der Pflegebedürftigkeit und der Pflege ausgerichtetes System ungehindert etablieren.
Fragt sich nur, wie lange wir, die Bürger, die wir alle auch "Angehörige" sind dieses, in weiten Teilen menschenverachtende Spiel noch mitmachen.

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