Erfolgreiches Modellprojekt

Ein Labor für die sektorübergeifende Versorgung

Eine Versorgungsplanung, die nicht nur die Grenzen zwischen ambulant und stationär, sondern auch von Landkreisen überwindet? – Im Südwesten wird das längst erprobt.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:

STUTTGART. Baden-Württemberg will das Labor für eine sektorübergreifende Versorgungsplanung sein. Beim Landeskongress Gesundheit wurde am vergangenen Freitag in Stuttgart Zwischenbilanz gezogen.

Seit Anfang 2016 wird in einem Modellprojekt in Südwürttemberg die landkreisübergreifende Versorgungsplanung erprobt. Unter Beteiligung von Reutlingen, Biberach und Ravensburg soll ein sektorübergreifendes Versorgungskonzept erarbeitet werden, das später auch in anderen Regionen Pate stehen kann. Aktuell ist Halbzeit für das Projekt – im Herbst soll der Endbericht vorliegen.

Im ersten Schritt wurde der Ist-Zustand der Versorgung von Forschern der Universität Heidelberg erhoben. Dabei geht es nicht nur um Morbidität und Mortalität der Bevölkerung, sondern auch um nicht-medizinische Determinanten wie das Gesundheitsverhalten oder demografische Faktoren. Ziel ist es, daraus den künftigen Versorgungsbedarf abzuleiten. Auf dieser Basis werden von Forschern der Universität Frankfurt im zweiten Schritt Versorgungs- und Patientenpfade für bestimmte Krankheitsbilder erarbeitet, und zwar für Darmkrebs, Depressionen, Demenz, Schlaganfall, Essstörungen, Diabetes und chronischer Rückenschmerz.

Wer soll steuern?

"Kreisgrenzen sind den Patienten egal", sagte Dr. Jürgen Wuthe, Leitender Ministerialrat im baden-württembergischen Sozialministerium. Anhand der Empfehlungen nationaler Versorgungsleitlinien würden nun in landkreisübergreifenden Arbeitsgruppen für die ausgewählten Erkrankungen Eckpunkte einer künftigen Versorgung erarbeitet. Bereits diesen Prozess beschrieb Dr. Monika Spannenkrebs, Leiterin des Gesundheitsamts in Biberach, als Gewinn: "Manche der Teilnehmer haben noch nie vorher miteinander geredet." Vielfach sei in den Runden das Fehlen eines Casemanagements in der Versorgungskette bemängelt worden, berichtet sie. Unklar sei aber, wer diese Steuerung leisten soll.

Diese Frage trieb in Stuttgart auch die Teilnehmer einer Podiumsrunde um. Der Chef der Landes-KV, Dr. Norbert Metke, betonte, das derzeitige System der freien Arztwahl per Chipkarte habe keine Zukunft: "Wir haben pro Jahr 70 Millionen Behandlungsscheine bei acht Millionen GKV-Versicherten im Land", erinnerte er. Baden-Württembergs AOK-Chef Dr. Christopher Hermann verwies auf den Effekt der hausarztzentrierten Versorgung: "In der HzV gibt es 40 Prozent weniger unkoordinierte Facharztkontakte als in der Regelversorgung."

Nach Ansicht von Andreas Vogt, dem Leiter der Landesvertretung des Ersatzkassenverbands vdek, hat sich in zehn Jahren die freie Arztwahl bisheriger Prägung ohnehin erledigt. Es werde dann digitale Unterstützung für Patienten geben, so dass sie die Behandlungsangebote wählen, mit denen ihnen am besten geholfen werden kann. Vogt erinnerte an den Trend der Individualisierung in der Gesellschaft. "Und das soll in der Medizin anders sein? Das glaube ich nicht!"

Die Frage, bei welcher Institution das Casemanagement verankert werden soll, blieb bei der Podiumsrunde strittig: Primär bei Ärzten, forderte Dr. Ulrich Clever, Präsident der Landesärztekammer. Kassenvertreter widersprachen und verwiesen auf Umfragen, wonach zwei Drittel der Befragten sich mehr Unterstützung von den Kassen wünschen.

Nicht zu sehr auf die EU schielen

Bei der Suche nach Modellen der Versorgungssteuerung sollte man nicht zu unbedarft ausländische Beispiele heranziehen, empfahl Dr. Günther Danner, stellvertretender Direktor der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung. "Unser System in Deutschland lebt von ärztlicher Vielfalt", erinnerte er. Das sehe bei vielen europäischen Nachbarn anders aus. Denn bei Versorgungssteuerung handele es sich immer um einen begrenzenden Vorgang. Und insbesondere steuerfinanzierte Gesundheitssysteme wiesen eine Vielzahl von Dirigismen auf – die meisten benachbarten Gesundheitssysteme kennten weder einen direkten Facharztzugang, noch den Arzt als freien Beruf, sagte Danner.

Vor diesem Hintergrund handele es sich beim hiesigen Gesundheitssystem um einen "deutschen Sonderweg" im Vergleich zur Systemarchitektur vieler EU-Staaten. Bei der Übernahme ausländischer Modelle von Versorgungssteuerung müsse daher immer gefragt werden, "wie viel Strukturverlust im Vergleich zum Status quo" man in Deutschland bereit sei hinzunehmen. Danner warnte, die Europäische Kommission versuche in immer mehr Bereiche der Sozialpolitik steuernd einzugreifen.

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