Ärzte rügen Ampel-Koalitionäre
Enttäuschung bei Ärzten über schmale Diabetespläne der Ampel-Koalition
Rund 8,5 Millionen Diabetespatienten und nur ein paar zaghafte Ankündigungen: Fachgesellschaften vermissen im Ampel-Koalitionsvertrag konkrete Weichenstellungen im Kampf gegen Diabetes. Das könne sich rächen, warnen sie.
Veröffentlicht:Berlin. Knapp 180 Seiten umfasst der Koalitionsvertrag der Ampel-Partner im Bund. Auf acht Seiten werden Gesundheit und Pflege adressiert – hinzu gesellen sich Ankündigungen, wie den Bundesbürgern eine gesündere Ernährung ermöglicht werden soll. Der Begriff Diabetes taucht einmal auf, das Wort Adipositas gar nicht.
Ärzte reiben sich verwundert die Augen: Haben SPD, FDP und Grüne übersehen, dass es sich bei Diabetes und Adipositas um Krankheiten mit „pandemischem Ausmaß“ handelt?
Koalitionsvertrag
Die Gesundheitspolitik der Ampel-Koalition
Der Vorstandschef von diabetesDE – Deutsche Diabetes Hilfe, Dr. Jens Kröger, kann seine Enttäuschung über die schmalen Diabetespläne jedenfalls nicht verhehlen. „Fortschritt wagen sieht anders aus“, sagt er und spielt auf die Überschrift des Ampelvertrags „Mehr Fortschritt wagen“ an.
Ernüchterung statt Aufbruch
Mit einer Absichtserklärung allein, stellt der Diabetologe Dr. Christian Toussaint aus Berlin fest, könne der „Heimsuchung unseres Gesundheitssystems“ namens Diabetes und Adipositas nicht begegnet werden. Der Präsident der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG), Professor Jens Aberle, weist auf 17 Millionen Menschen hin, die an Fettleibigkeit litten. Dass Adipositas im Koalitionsvertrag nicht erwähnt ist, enttäuscht ihn. Da müsse mehr kommen.
Koalitionsvertrag
Die Gesundheitspolitik der Ampel-Koalition
Johannes Wagner, Kinderarzt und neuer Grünen-Bundestagsabgeordneter, verweist derweil auf die Weiterentwicklung des Präventionsgesetzes, die die Ampel anpeile. „Dem Leitgedanken von Vorsorge und Prävention folgend, stellen wir uns der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe zielgruppenspezifisch und umfassend“, wiederholt Wagner einen eher sperrig klingenden Passus im Koalitionsvertrag. Die Verhältnisprävention solle gestärkt, der Health-In-All-Policies-Ansatz angewendet und Maßnahmenpakete „unter anderem“ zu Diabetes geschnürt werden.
Umstrittene Zuckersteuer
Konkreter wird Wagner bei der Zuckersteuer. „Ich persönlich halte es für sinnvoll, einfach und schnell umsetzbar, den Gehalt von Zucker in Softdrinks zu halbieren“, erklärt er. „Ich könnte mir eine Besteuerung wie in Großbritannien gut vorstellen.“ Noch bevor das Gesetz in Kraft getreten sei, hätten Hersteller weniger Zucker in ihre Getränke gemischt, um Steuern zu vermeiden.
Streit um Sondersteuer
Verbraucherschützer und Hersteller liefern sich Zuckerzwist
Das Problem: Die von den Grünen und auch SPD-Gesundheitsminister Professor Karl Lauterbach gelegentlich geforderte Extraabgabe auf zuckersüße Limos hat es nicht in den Ampelvertrag geschafft. Bei Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), stößt das auf Unverständnis. Mehr Mut in der Frage der Zuckersteuer wäre angezeigt. „Eine solche Abgabe ist essenziell, um den Zuckeranteil wirksam zu reduzieren.“
Bei Professor Andrew Ullmann verfängt dieses Argument nicht. „Ich halte es für besser, dass unter anderem die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung erhöht wird. Dies wird das Konsumentenverhalten nachhaltig verändern“, sagt der Arzt und FDP-Politiker. Auch Ullmann mahnt mehr Prävention und eine bessere Versorgung des Diabetes an. Andere Staaten seien hier weiter. Österreich etwa habe eine „ausformulierte Strategie“ aufgelegt. „Deutschland hat nur eine Absichtserklärung“, spielt Ullmann auf die 2020 vom Bundestag verabschiedete Diabetesstrategie an. Der Rahmenplan sei nachzuschärfen.
Fachgesellschaften wie DDG und DAG fordern das seit Monaten. Gebetsmühlenartig weisen sie darauf hin, dass es ja schön und gut sei, einen Rahmenplan mit Handlungsempfehlungen aufzuschreiben. Handfestes bewirken könne das Papier aber nur, wenn Inhalte umgesetzt würden. Einziger Lichtblick sei das inzwischen angeschobene DMP Adipositas.
Problemfeld ärztlicher Nachwuchs
Beim Ärztenachwuchs tue sich dagegen Ungemach auf: Laut DDG ist die Diabetologie nur noch an acht von 37 staatlichen medizinischen Fakultäten mit bettenführenden Lehrstühlen vertreten. Damit aber könnten Wissen und Fähigkeiten in Diabetologie und Endokrinologie nicht an ausreichend viele junge Mediziner weitergereicht werden. Bund und Länder stünden in der Verantwortung, die Zahl klinischer Lehrstühle zu steigern. Passiere das nicht, drohe die Endokrinologie/Diabetologie aus der deutschen Universitätsmedizin zu verschwinden.
In der Koalition scheint diese Botschaft angekommen zu sein. „Bei Studierenden muss das Interesse für Diabetologie gestärkt werden“, sagt Wagner. Leider gebe es immer weniger diabetologische Abteilungen und Klinikkapazitäten, dadurch komme der Nachwuchs weniger mit dieser Volkskrankheit in Berührung. Es bestehe Handlungsbedarf, sagt Wagner.
Den freilich hatte auch die frühere Regierung ausgemacht. Der CDU-Politiker Dietrich Monstadt etwa, einer der Architekten der Diabetesstrategie, hatte es vor zwei Jahren bereits als unhaltbar kritisiert, dass Diabetes an manchen Fakultäten mit vier Unterrichtsstunden abgehandelt werde. Das sei definitiv zu wenig für eine Volkserkrankung, die mit erheblichen Beeinträchtigungen und enormen Kosten verbunden sei.
Stimmen zum Koalitionsvertrag
Adipositas findet leider keine Erwähnung
Leider müssen wir feststellen, dass Adipositas im Koalitionsvertrag keine Erwähnung findet – obwohl etwa 17 Millionen Bundesbürger betroffen und die Versorgungsstrukturen desolat sind.
Adipositas ist eine der häufigsten chronischen Erkrankungen und ein maßgeblicher Risikofaktor für zahlreiche Folgekrankheiten – nicht zuletzt auch für einen schweren COVID-19-Verlauf. Seit Beginn der Pandemie ist es zu weiteren, teils drastischen Gewichtszunahmen gekommen. Eine Stärkung der Adipositas-Therapie ist wichtiger denn je. Die Ampel möchte Primär- und Sekundärprävention stärken. Ein Maßnahmenpaket zur Adipositas-Therapie ist jedoch nicht angekündigt. Dass im Ernährungskapitel auch einige zielführende Maßnahmen versprochen werden, kann die Enttäuschung darüber nicht aufwiegen.
Professor Jens Aberle, Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG)
Fortschritt wagen sieht anders aus
Grundsätzlich begrüßen wir, dass die Regierung einen nationalen Präventionsplan schaffen will, der konkrete Maßnahmenpakete auch zu Diabetes vorsieht. Die Antwort, wie die aussehen werden, ob und wie die Diabetesstrategie integriert werden soll, bleibt der Koalitionsvertrag allerdings schuldig. Und dass die Bekämpfung der Adipositas nicht mit einem Wort erwähnt wird, ist angesichts explodierender Zahlen bei Kindern und Jugendlichen verstärkt durch Corona schlicht unverständlich.
Positiv hervorzuheben ist eine Ernährungsstrategie für eine gesunde Umgebung bis 2023 und ein Werbeverbot von Lebensmitteln mit hohem Zucker-, Fett-, und Salzgehalt für unter 14-Jährige. Gewünscht hätten wir uns mehr Mut und Weitsicht bei der Einführung einer Zuckersteuer. Fehlanzeige! Fortschritt wagen sieht anders aus.
Dr. Jens Kröger, Vorstandsvorsitzender von diabetesDE – Deutsche Diabetes-Hilfe
Eine Zuckersteuer wäre essenziell
Dass die Bundesregierung ein Werbeverbot für ungesunde Kinderlebensmittel angehen will, begrüßen wir. Allerdings steckt der Teufel hier im Detail: Denn das Verbot in der jetzigen Formulierung deckt nur Formate ab, die sich an Kinder unter 14 Jahren richten. Der Einfluss von sozialen Medien oder Influencern wird nicht erwähnt. Das lässt zu viel Interpretationsspielraum, der mit Vorgaben auf Bundesebene eingeschränkt werden sollte.
Wir hätten uns zudem mehr Mut bei der Zuckersteuer für stark gesüßte Softdrinks gewünscht. Eine solche Abgabe ist essenziell, um den Zuckeranteil wirksam zu reduzieren. Wir werden uns daher dafür einsetzen, dass die im Koalitionsvertrag verankerte Ernährungsstrategie mit weiteren Maßnahmen ausgestaltet wird.
Barbara Bitzer, Geschäftsführerin Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und Sprecherin Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK)
Absichtserklärung allein reicht nicht aus
Da es sich beim Typ 2 Diabetes und bei Adipositas um gesundheitspolitische und medizinische Herausforderungen von pandemischem Ausmaß handelt, wird es nicht ausreichen, dieser Heimsuchung unseres Gesundheitssystems mit einer Absichtserklärung für Maßnahmenpakete unter anderem zu Diabetes mellitus zu begegnen – eingeklemmt zwischen Alterszahngesundheit und Einsamkeit.
Dr. Christian Toussaint, Arzt für Innere Medizin und Diabetologie in Berlin-Biesdorf
Rahmenplan gegen Diabetes-Pandemie
Der Koalitionsvertrag hat gute Ansatzpunkte, bleibt aber in zu vielen Punkten vage. Dass es ein Register- und Forschungsdatengesetz geben soll, ist gut. Dieses kann helfen, Versorgungsprobleme durch Digitalisierung besser zu lösen. Das ist wichtig, da in Deutschland mehr als 8,5 Millionen Menschen mit Diabetes leben, jährlich kommen 550.000 dazu. Rund 20 Prozent der Todesfälle gehen direkt auf Diabetes zurück, 20 Prozent aller Patienten im Krankenhaus haben die Diagnose Diabetes.
Daher muss in diabetesbezogene Gesundheitsberufe und Einrichtungen verlässlich investiert werden. Wir erwarten, dass die Diabetesstrategie dringend in einen nationalen Rahmenplan überführt wird. Dieser hat zu definieren, wie die Diabetes-Pandemie wirkungsvoll bekämpft werden kann.
Professor Baptist Gallwitz, Sprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG)
Schon im Kindes- und Jugendalter ansetzen
Bei den Themen Diabetes und Adipositas ist es wichtig, schon im Kindes- und Jugendalter anzusetzen und Anstrengungen zur Prävention dieser Erkrankungen zu verstärken. Daher begrüßen wir es, dass im Koalitionsvertrag der Ampel das Verbot für an Kinder gerichtete Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt enthalten ist. Das ist eine Maßnahme, die die AOK schon seit vielen Jahren fordert. Auch die von uns immer wieder angemahnte Verbindlichkeit einer Reduktionsstrategie für Zucker, Salz und Fett in Fertigprodukten ist berücksichtigt worden.
Insofern enthält der Koalitionsvertrag richtige und wichtige erste Schritte. Zu bedauern ist jedoch die verpasste Chance der Einführung einer Verbrauchssteuer auf stark zuckerhaltige Softdrinks. Da muss nachgebessert werden.
Dr. Kai Kolpatzik, Leiter der Abteilung Prävention beim AOK-Bundesverband