Kontroverses Echo auf Urteil
Gericht erlaubt Sterbehilfe in Extremfällen
Der Staat muss in Einzelfällen die Erlaubnis zum Kauf eines Arzneimittels gewähren, um einen Suizid zu ermöglichen. Die Reaktionen auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sind gespalten.
Veröffentlicht:Der Witwer Ulrich Koch im Jahr 2012: Mehr als zehn Jahre hat er sich durch die Instanzen geklagt.
LEIPZIG. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat Schwerkranken eine Tür zur Suizidhilfe geöffnet. Der Zugang zu Arzneien für eine schmerzlose Selbsttötung darf ihnen "in extremen Ausnahmefällen nicht verwehrt werden". Das allgemeine Persönlichkeitsrecht verlange entsprechende Ausnahmen.
Damit gab das Bundesverwaltungsgericht einem Mann aus Braunschweig recht. Seine Ehefrau war 2002 im eigenen Haus schwer gestürzt. Seitdem war sie querschnittsgelähmt und auf künstliche Beatmung sowie ständige Pflege angewiesen. Immer wieder hatte sie den Wunsch geäußert, ihr als Leid empfundenes Leben beenden zu können. 2004 beantragten sie und ihr Mann beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) die Erlaubnis zum Kauf einer tödlichen Dosis Natrium-Pentobarbital.
Das Bundesinstitut lehnte dies ab: Das Gesetz erlaube nur eine Versorgung mit Betäubungsmitteln aus medizinischen Gründen. Die beabsichtigte Selbsttötung gehöre dazu nicht.
Am 12. Februar 2005 nahm sich die Frau mit Hilfe des Vereins Dignitas in der Schweiz das Leben. Anschließend legte ihr Mann Klage gegen die Entscheidung des BfArM ein. Bis zum Bundesverfassungsgericht blieb diese ohne Erfolg.
Die Gerichte meinten, der Mann sei nicht selbst betroffen und könne nicht für seine Ehefrau klagen. Der heute über 70-jährige rief daraufhin den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg an. Der bestätigte zwar, dass der Mann nicht die Rechte seiner Frau einklagen kann. Er habe aber glaubhaft dargelegt, dass er wegen seiner engen Bindung zu ihr in 25-jähriger Ehe selbst stark von der Entscheidung des BfArM betroffen war. Daher hätten Gerichte seine Klage annehmen und inhaltlich prüfen müssen.
Zum Recht auf passive Sterbehilfe äußerte sich der EGMR nicht. Im Wiederaufnahmeverfahren lehnten die deutschen Instanzgerichte dies erneut ab. Das Bundesverwaltungsgericht hob diese Urteile nun auf und entschied, dass in Einzelfällen ein Anspruch auf tödliche Medikamente bestehen kann. Gesetzlich sei dies zwar eigentlich nicht vorgesehen, dem stehe aber das allgemeine Persönlichkeitsrecht entgegen. Dies "umfasst auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Patienten, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben beendet werden soll", so die Richter.
Nach dem Urteil muss das BfArM bei Anträgen auf Zugang zu tödlichen Arzneimitteln künftig prüfen, ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt. Dem Antrag ist stattzugeben, wenn Patienten "wegen ihrer unerträglichen Lebenssituation frei und ernsthaft entschieden haben, ihr Leben beenden zu wollen", und wenn eine palliativmedizinische Versorgung keine Perspektive zur Beendigung des empfundenen Leids gibt.
In solchen Fällen "darf der Zugang zu einem (…) Betäubungsmittel, das eine würdige und schmerzlose Selbsttötung erlaubt, nicht verwehrt sein". Dies habe das BfArM nicht geprüft. Seine Entscheidung sei daher rechtswidrig. Ob die Frau einen Anspruch auf tödliche Medikamente gehabt hätte, lasse sich nachträglich nicht mehr prüfen.
Das Urteil stößt auf ein kontroverses Echo. Bundesgesundheitsminister Gröhe will eine staatliche Suzidhilfe weitgehend unterbinden und die Urteilsbegründung genau prüfen. Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben wertet es als "Schritt in die richtige Richtung". Die Deutsche Stiftung Patientenschutz meint, es bleibe offen, "was eine unerträgliche Leidenssituation ist". „Wir werden die ausstehende schriftliche Urteilsbegründung genau prüfen und alle Möglichkeiten nutzen, den Tabubruch staatlicher Selbsttötungshilfe zu verhindern“, sagte Gröhe. „Staatliche Behörden dürfen nicht zum Handlanger der Beihilfe zur Selbsttötung werden.“ Auch die Bundesärztekammer rügt, es dürfe nicht eine Behörde über ethische Fragen entscheiden.
Der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband warnte indes vor einer Entsolidarisierung mit schwerst kranken und sterbenden Menschen. Prof. Winfried Hardinghaus, Vorsitzender des Verbands, betonte in einem Schreiben: "Wenn die palliativmedizinische Versorgung an einem Ort in Deutschland nicht in ausreichendem Maß zur Verfügung stehen sollte, was das Gericht übrigens nicht festgestellt hat, dann ist nicht die Bereitstellung von Mitteln zur Selbsttötung die Konsequenz, sondern der weitere Ausbau von Strukturen zur Versorgung der Betroffenen. Die gesellschaftliche Diskussion vor dem Hintergrund des Hospiz- und Palliativgesetzes in den letzten Jahren scheint am Bundesverwaltungsgericht nicht angekommen zu sein."
Bundesverwaltungsgericht Az.: 3 C 19.15