WIdO-Pflegereport
80 Prozent Übersterblichkeit bei Pflegeheimbewohnern Ende 2020
Menschen in Pflegeheimen hat die Pandemie besonders übel mitgespielt. Ein WIdO-Report zeigt auf: Ihre Sterberate stieg überproportional. Viele durften monatelang ihre Angehörigen nicht sehen.
Veröffentlicht:Berlin. Menschen in Pflegeheimen waren während der ersten COVID-19-Welle am schwersten betroffen. In der letzten Woche des vergangenen Jahres lag die Übersterblichkeit bei 80 Prozent der normalen Rate. Das geht aus dem am Dienstag veröffentlichten Pflegereport des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) hervor.
Insgesamt ist die Sterberate in den Heimen im Frühling vor einem Jahr drastisch gestiegen. Drei Wochen nach dem Start des ersten Lockdowns im April lag sie den WIdO-Erkenntnissen zufolge bereits 20 Prozent höher als im Mittel der Vorjahre. Von Oktober bis Dezember 2020 starb knapp ein Drittel (30 Prozent) der Heimbewohner mehr als sonst im Winter.
Viele Heimbewohner antriebslos und niedergeschlagen
Viele alte Menschen in den Heimen verbrachten in der Pandemie viele Tage isoliert. 43 Prozent der vom WIdO befragten Angehörigen berichteten, dass zwischen März und Mai 2020 kein Kontakt zu den Pflegebedürftigen möglich war. Zwei Fünftel der Heimbewohner (41 Prozent) hatte zwischen März und Mai 2020 keine oder nur selten die Möglichkeit, ihr Zimmer zu verlassen.
Die Angehörigen nahmen zudem wahr, wie sich der körperliche, geistige und psychische Zustand ihrer Verwandten zum Schlechteren veränderte. Bei mehr als der Hälfte litt demnach die Mobilität. Mehr als zwei Drittel berichteten von häufiger Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit.
Kuhlmey: „Institutionelles Versagen“
Von einem „institutionellen Versagen in der Versorgung“ sprach die Mitherausgeberin Professorin Adelheid Kuhlmey, aktuell Direktorin des Instituts für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité, ehemals Gesundheitssachverständige und Ethikrätin, bei der Vorstellung des Berichts. Man müsse von einer Katastrophe in den Heimen sprechen, die sich nie wiederholen dürfe. Die Schutzmaßnahmen
in den heimen hätten nicht überall vor hohen Infektionsraten und Sterblichkeit geschützt, sagte Kuhlmey. Es dürfe nie wieder geschehen, dass Angehörige ihre Verwandten nicht besuchen dürften. „Wir wollten den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Das ist uns nicht gelungen“, sagte Kuhlmey.
„Die Infektionsschutzmaßnahmen während der Pandemie reichten nicht aus, um die im Heim lebenden pflegebedürftigen Menschen ausreichend zu schützen“, sagte Dr. Antje Schwinger, Leiterin des Forschungsbereichs Pflege im WIdO und Mitherausgeberin des Pflegereports. Das Institut fordert nun eine Untersuchung, welche technischen, baulichen, rechtlichen und personellen Veränderungen die Heime benötigen, damit sich solche Situationen nicht wiederholen. Schwinger betonte, dass nicht der gesamte Sektor an den Pranger gehöre. „Die Probleme verteilen sich ungleich über die Pflegeheime“, sagte die Wissenschaftlerin.
Gut untersucht ist inzwischen die erste Pandemie-Welle von April bis Juni 2020, da dafür die Abrechnungsdaten der Krankenhäuser und der niedergelassenen Ärzte bereits vorliegen. Daraus geht hervor, dass jede dritte COVID-19-Diagnose bei über 60-Jährigen auf einen Bewohner im Pflegeheim entfiel.
Viele Pflegebedürftige unter vollstationär versorgten COVID-Patienten
Dieses Verhältnis zeigte sich auch in den Krankenhäusern. Von den vollstationär versorgten COVID-Patienten war ein Drittel pflegebedürftig. Nicht ermittelt werden kann aufgrund der Daten, ob die Infektion Auslöser der Krankenhauseinweisung war, oder erst dort erworben wurde, teilt das WIdO mit.
Mehr als jeder dritte (36 Prozent) 60- bis 64-jährige Pflegeheimbewohner starb, wenn er in dieser Pandemie-Phase mit COVID-19 im Krankenhaus lag. Die Sterberate der Nicht-Pflegeheimbewohner mit COVID-19 im Krankenhaus lag bei neun Prozent. „Pflegeheimbewohnende dürften aufgrund ihrer hohen Multimorbidität deutlich eher als andere Personengruppen gleichen Alters verstorben sein“, sagt Schwinger.