Ärzte sind gefragt

Herausforderung Folter-Opfer

Viele Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, mussten in ihrer Heimat Folter erleben. Und viele Ärzte sind mit der Behandlung traumatisierter Flüchtlingen überfordert. Nicht nur aus Zeitmangel.

Von Martina Merten Veröffentlicht:
Plastiktüten über dem Kopf und Lichtentzug gehören laut Amnesty zu den häufigsten Foltermethoden - die Menschenrechtsorganisation protestiert deswegen regelmäßig dagegen, wie hier in Brüssel gegen den Umgang mit Häftlingen im US-Gefängnis Guantanamo.

Plastiktüten über dem Kopf und Lichtentzug gehören laut Amnesty zu den häufigsten Foltermethoden - die Menschenrechtsorganisation protestiert deswegen regelmäßig dagegen, wie hier in Brüssel gegen den Umgang mit Häftlingen im US-Gefängnis Guantanamo.

© Octavian / dpa

BERLIN. Immer wieder kommen Patienten aus Syrien oder Libyen ins Evangelische Hubertus Krankenhaus in Zehlendorf, deren Verletzungen auf Folter hinweisen.

Was genau diesen Menschen wiederfahren ist - ob sie ohne Schlaf auskommen mussten, schrecklichem Lärm ausgesetzt waren, mit Zigaretten verbrannt oder auf grausame Art und Weise sexuell bedroht worden sind-, das alles können unsere Ärzte nicht sagen, berichtet Dr. Matthias Albrecht.

Albrecht ist Geschäftsführer des Krankenhauses, das Thema Folter liegt ihm seit vielen Jahren am Herzen. "Natürlich werden diese Patienten akut bei uns behandelt", sagt Albrecht, der auch Delegierter der Ärztekammer Berlin ist.

Mehr könnten viele Ärzte an seinem Krankenhaus allerdings nicht tun. Und die Patienten selbst schwiegen, sagt Albrecht. Häufig aus Scham.

Folter ist die schwerste Form der Misshandlung. Schon die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 enthält ein absolutes Folterverbot.

Später folgten rechtsverbindliche Verbote wie die 1984 von den Vereinten Nationen verabschiedete und 1987 ratifizierte Antifolterkonvention.

Viele Länder brachten im Anschluss an die UN-Konvention nationale Gesetze gegen Folter auf den Weg, um ein klares Signal gegen körperliche oder seelische Qualen durch Staatsgewalt zu setzen.

Dennoch: Im Zeitraum von 2009 bis 2014 hat Amnesty International in 141 Ländern Folter feststellen müssen.

Am häufigsten sind nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Schläge und Tritte, das Erzeugen eines Gefühls des Erstickens durch Gegenstände wie Plastiktüten über dem Kopf, Elektroschocks oder das Aufhängen an Armen und Beinen.

Behandlung ist nicht einfach

44 Prozent haben Angst vor Misshandlungen

Einer von Amnesty International durchgeführten Befragung von 21.000 Menschen in 21 Ländern zufolge befürchtet beinahe die Hälfte (44 Prozent) aller Befragten, dass sie in ihrem Heimatland gefoltert werden könnten.

Die überwiegende Mehrheit (82 Prozent) ist der Meinung, es solle klare Gesetze zur Bekämpfung von Folter geben. Mehr als ein Drittel (36 Prozent) denkt, dass in bestimmten Fällen die Anwendung von Folter gerechtfertigt sein kann. 74 Prozent der Chinesen halten Folter für fallweise notwendig, bei den Amerikanern sind es immerhin 45 Prozent, die die Anwendung von Folter für fallweise vertretbar halten.

Professor Steven Miles von der University of Minnesota prangert das Verhalten amerikanischer Ärzte in US-Gefängnissen wie Guantanamo massiv an. Der Arzt und Professor für Medizinische Ethik wertete für sein Buch über die Mittäterschaft von Militärärzten und Sanitätspersonal in US-Gefängnissen mehrere Tausend Dokumente aus. Das Ergebnis: Nicht nur einmal hatten es Ärzte unterlassen, Insassen im Anschluss an die Folter ärztlich zu versorgen.

Darüber hinaus waren Ärzte Mittäter von Verhörplänen, die medizinisches Fachwissen erforderten. In solchen Verhören wurde Schlafentzug angeordnet oder Insassen wurden extremer Kälte oder Hitze ausgesetzt. Auch das Verhalten von Pathologen kritisiert der US-Professor. Sie hätten Todesbescheinigungen bei Tod durch Folter verweigert und damit wissentlich geschwiegen. (mam)

40 Prozent der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, haben Statistiken zufolge traumatische Situationen erlebt. Sie alle sind behandlungsbedürftig, weiß Dr. Ernst-Ludwig Iskenius. Er ist Mitglied im Aktionsnetz Heilberufe von Amnesty International.

Wie Geschäftsführer Albrecht weiß Iskenius, dass die Diagnose und Behandlung von Menschen, die solche körperlichen und seelischen Qualen durchstehen mussten, alles andere als einfach ist.

"Die Opfer reden kaum über ihre Erfahrungen und sprechen meist unsere Sprache nicht", sagt Iskenius, der von 1992 bis 1995 als Arzt in Bosnien gearbeitet hat. Nicht immer sind in allen Praxen Dolmetscher zugegen.

Außerdem ist das deutsche Gesundheitswesen dem Arzt zufolge nicht darauf ausgerichtet, traumatisierte Flüchtlinge zu behandeln, es fehlten schlichtweg die Qualifikation und das Geld.

Albrecht sieht dies ähnlich. "Folteropfer sind schwer unterzubringen, die Leute werden von einer Stelle zur anderen hin- und hergeschoben", sagt der Geschäftsführer des Hubertus Krankenhauses.

Gemeinsam mit Kollegen brachte Albrecht auf dem 117. Deutschen Ärztetag im vergangenen Jahr einen Antrag durch.

Hierin fordert der Ärztetag die Bundesregierung auf, durch ausreichend qualifizierte Fachkräfte die medizinische und psychologische Untersuchung von Asylbewerbern, Flüchtlingen und Abschiebehäftlingen zu gewährleisten, um insbesondere psychische Folgen von Traumatisierung zu erkennen.

Nur dann, so die Antragsteller, komme man in Deutschland auch europäischem Recht nach.

Die EU-Richtlinie 2013/33/EU besagt unter anderem, dass Patienten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht abgeschoben werden dürfen, da sie zum Kreis der besonders schutzbedürftigen Personen zählen.

Fehleinschätzungen keine Seltenheit

Dass es an der Qualifizierung von Fachkräften im Umgang mit traumatisierten Flüchtlingen hapert, merkte der Arzt Hans-Wolfgang Gierlichs schon vor vielen Jahren.

"Traumatisierte Patienten haben häufig eine gewisse Ausstrahlung, die niemand gerne spürt", sagt der ehemalige Leiter einer psychosomatischen Klinik.

Ein Vorfall vor beinahe 15 Jahren veranlasste den Internisten zum Handeln: Ein Amtsarzt hatte im Oktober 2000 den kurdischen Träger des Aachener Friedenspreises H. Calhan als nicht traumatisiert eingestuft.

Dabei belegten ärztliche Atteste eine psychische Traumatisierung als Folge von Folter.

Der Amtsarzt erklärte Calhan für "reisefähig". Der Kurde wurde abgeschoben. Das Gutachten, das der Abschiebung zugrunde lag, wies fachliche, rechtliche und ethische Mängel auf.

Der Fall des Kurden sorgte bundesweit für Entsetzen und mündete unter anderem in den "Aachener Friedensappell". Hierin forderten Gierlichs und andere verbindliche Richtlinien zur Untersuchung seelisch traumatisierter Flüchtlinge.

Gierlichs selbst entwickelte gemeinsam mit Kollegen 2001 ein Fortbildungscurriculum. Darin sind "Standards zur Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen in aufenthaltsrechtlichen Verfahren (SBPM) einschließlich Istanbul Protokoll" festgelegt.

Dokument mit Art Anleitung zur ärztlichen Behandlung von Folter

Das sogenannte Istanbul Protokoll hatte zwei Jahre zuvor das "Office of the High Commissioner for Human Rights" der Vereinten Nationen herausgegeben. Das Dokument ist eine Art Anleitung zur Behandlung und Dokumentation von Folter und anderen Grausamkeiten.

Darin ist unter anderem beschrieben, wie Ärzte Opfer zu untersuchen haben, worauf sie achten müssen und welche psychischen Auffälligkeiten bei Patienten vorkommen können.

Obwohl das Thema zu der Zeit noch zu den Randthemen der Bundesärztekammer zählte, wurde es positiv aufgenommen, berichtet Gierlichs. Inzwischen wird das Curriculum von den Kammern in Nordrhein-Westfalen, Westfalen-Lippe, Berlin, Bayern und Baden-Württemberg angeboten.

In den anderen Kammern besteht bislang kein Interesse oder in den dortigen Bundesländern gibt es nicht ausreichend Flüchtlinge, um eine solch spezielle Fortbildung anzubieten, sagt Gierlichs.

Trotz aller Bemühungen bleibt ein weiterer Aspekt ungelöst: Flüchtlinge sind nicht krankenversichert. Grundsätzlich haben nur anerkannte Flüchtlinge Anspruch auf normale Sozialleistungen.

Die Sozialleistungen, die Asylsuchende, Geduldete und zum Teil auch andere Flüchtlinge erhalten, richten sich nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.

20 Jahre lang lagen die Leistungen nach diesem Gesetz rund 30 Prozent niedriger als das Arbeitslosengeld II und damit weit unter dem, was in Deutschland als menschenwürdiges Existenzminimum gilt.

Medizinische Versorgung geregelt

Im Juli 2012 hat das Bundesverfassungsgericht die Leistungen als "evident unzureichend" kritisiert und sie deutlich angehoben.

Einen Großteil der Leistungen erhalten Flüchtlinge als sogenannte "Sachleistungen", also Einkaufsgutscheine oder Chipkarten, mit denen man nur bestimmte Dinge in bestimmten Geschäften kaufen kann.

Auch die medizinische Versorgung ist im Asylbewerberleistungsgesetz geregelt. Gezahlt wird allerdings nur bei "akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen".

Häufig werden Flüchtlingen Krankenscheine, Medikamente, Heil- und Hilfsmittel wie Brillen oder Krücken deshalb verweigert, einige Beschwerden werden verschleppt, bemängelt Albrecht.

"Wir sind zwar in Berlin weitaus besser aufgestellt als viele andere Bundesländer", findet der ÄK-Delegierte. Am Ende reicht es aber trotzdem nicht.

Lesen Sie dazu auch: Folter-Opfer: Wo Betroffene das Schweigen brechen

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