Daniel Bahr im Interview
"Hier werde ich als Sozialist bezeichnet"
Seit sechs Monaten berät Ex-Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr einen unparteiischen Think Tank in den USA. Im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" erzählt er, warum viele US-Amerikaner Deutschland für sozialistisch halten.
Veröffentlicht:Ärzte Zeitung: Herr Bahr, wie sind Sie zum Center for American Progress (CAP) nach Washington gekommen?
Daniel Bahr: Die Idee entstand nach der enttäuschenden letzten Bundestagswahl. In einem Gespräch mit meiner amerikanischen Gesundheitsministerkollegin kam die Idee auf, einige Monate in Washington DC die Gesundheitsdebatte zu begleiten.
Ich konnte mir nicht vorstellen, direkt nach dem Ausscheiden aus dem Amt etwas Neues zu machen, sondern wollte mir erst einmal eine Auszeit nehmen und ein wenig Abstand von deutscher Politik gewinnen.
Und wie gefällt Ihnen diese "Auszeit"?
Bahr: Es ist persönlich sehr bereichernd, weil hier fundamentale Diskussionen geführt werden, die wir in Deutschland längst beantwortet haben, zum Beispiel: Warum muss jeder eine Krankenversicherung haben?
Wie ist Ihr bisheriger Eindruck vom US-System?
Bahr: Das System ist fragmentiert. Wenn wir uns in Deutschland über Sektorengrenzen zwischen Krankenhäusern und niedergelassenem Sektor streiten, ist das nichts im Vergleich zu der Situation hier. Hier gibt es viel mehr Grenzen. Der Austausch zwischen Krankenhäusern findet nicht statt, jeder arbeitet in seinem eigenen Bereich.
Das, was wir beispielsweise mit den klinischen Krebsregistern aufbauen, gibt es hier so nicht. Die Amerikaner sammeln zwar länger Daten. Die Ergebnisse der Spitzenforschung kommen aber nicht in die breite Versorgung.
Welchen Eindruck konnten Sie vom aktuellen Reformgeschehen gewinnen, Stichwort: Obamacare?
Bahr: Ich hatte in der Vergangenheit viel von den Reaktionen auf Obamacare gelesen. Dass die Frage, ob jeder Zugang zu einer Krankenversicherung haben soll, allerdings so aggressiv und fundamental diskutiert wird, hatte ich nicht erwartet.
Es sind nach wie vor viele Menschen, seien es Taxifahrer, Politiker, Journalisten oder Lobbyisten, die es als freiheitsberaubend empfinden, dass der Bundesstaat von ihnen verlangt, sich zu versichern. Dabei ist man weit davon entfernt, wirklich ein staatliches Gesundheitssystem zu haben. Es gibt immer noch die freie Wahl der Versicherung und den Selbstbehalt.
Sie kennen vielleicht diese Schmunzel-Geschichte: Ich als Liberaler, der häufig genug in Deutschland Anfeindungen gegenüberstand, wurde hier als Sozialist bezeichnet, nur weil ich finde, jeder soll krankenversichert sein.
Hier gibt es Familien, die bankrott gegangen sind, weil sie sich eine Krebs-Behandlung nicht leisten konnten. Sie mussten ihr Haus verkaufen. Das ist für mich inakzeptabel.
Gerade deshalb ist es schwer nachvollziehbar, dass so viele Amerikaner Obamacare ablehnen.
Bahr: Die USA sind ein Kontinent. Der ist nicht zu vergleichen mit Deutschland. Viele wehren sich aus Prinzip gegen Regelungen aus Washington. Deutschen erkläre ich daher den Widerstand mit einem Vergleich: Obwohl es einen Konsens in Europa gibt, wenn die Europäische Kommission auf die Idee käme, ein einheitliches Gesundheitssystem in der EU aufzubauen, würde das nicht funktionieren.
Aus guten Gründen ist auch in Europa das Gesundheitssystem eine nationale Verantwortung und Aufgabe. Das hat verschiedene ethische, kulturelle und historische Gründe.
Die Ablehnung liegt auch daran, dass viele eine Versicherung hatten und die neue Gesetzgebung von ihnen verlangt, dass sie ihre Versicherung wechseln müssen. In der Kommunikation ist ein großer Fehler passiert - Obama hat gesagt, sie könnten in ihrer Versicherung bleiben. Nun sind die Leute sauer.
Sind sie sauer, weil es umständlich ist, über die sogenannten Health Insurance Exchanges eine neue Versicherung zu finden? Oder sind sie sauer, weil die neuen Versicherungen für mehr Geld weniger bringen?
Bahr: Dass die neuen Versicherungen für mehr Geld weniger bringen, kann nicht sein. Ich denke, einen Mindestumfang festzuschreiben, wie im Affordable Care Act geschehen, ist richtig. Große Risiken müssen versichert sein. Auch wenn es nicht so umfangreich sein muss wie in Deutschland. Letztlich herrscht hier eine andere Kultur.
Die USA sind ein Land von Immigranten, Zuwanderung ist an der Tagesordnung. Eigenverantwortung wird betont. Gesundheit ist Aufgabe des Einzelnen. Das ist mir als Liberalem sehr sympathisch. Aber nur auf Eigenverantwortung zu setzen funktioniert nicht. Krebs kann einen auch mit noch so gesunder Lebensweise erreichen. Für die großen Risiken braucht es Sicherheit und Solidarität.
Wird Solidarität in den USA nicht gelebt?
Bahr: Solidarität wird anders gelebt als bei uns. Die Amerikaner mögen den Begriff auch nicht. Hier gibt es beispielsweise den kostenfreien Zugang zu Emergency Rooms. Außerdem übernehmen Menschen in den USA in ihrer Gemeinschaft Verantwortung. Und es ist selbstverständlich, dass Leute mit viel Geld dieses Geld spenden. In den USA gibt man etwas zurück, weil man selbst viel Glück hatte.
Aus aktuellen Umfragen geht die Unzufriedenheit, die Sie beschreiben, deutlich hervor: Lediglich rund 40 Prozent befürworten Obamacare….
Bahr: Ja, allerdings fallen Antworten auf Fragen nach einzelnen Reformschritten anders aus als die Gesamtreformzustimmung. Wenn Sie Fragen zu einzelnen Teilen der Reform stellen, ist die Zustimmung größer. Das zeigt, dass es auch ein technisches Problem war. Washington ist nicht repräsentativ für Amerika.
In den Staaten werden viele Dinge abgelehnt, die aus Washington kommen. Ein Gesetz fast nur über eine Homepage zu implementieren, war sowieso riskant. Dass das nicht funktioniert hat, war ein guter Anlass für viele zu schimpfen.
Und wer in Deutschland wechselt schon gerne seine Krankenversicherung? Auch in Deutschland ist das nicht so beliebt. Wenn das dann auch noch vom Staat verlangt wird, erklärt dies die Ablehnung.
Bislang, heißt es, haben sich rund als acht Millionen Amerikaner über die Health Insurance Exchanges neu versichert. Ist das viel, ist das wenig?
Bahr: Das ist eigentlich nicht viel. Je nachdem wie man rechnet. Misst man die acht Millionen Neuversicherten an der höheren Schätzung unversicherter Menschen (50 Millionen), sind acht Millionen nicht viel.
Allerdings profitieren schon jetzt rund 15 Millionen Amerikaner direkt vom Affordable Care Act, weil durch das Gesetz mehr Menschen Medicaid beziehen. Außerdem wird die Versichertenzahl weiter wachsen, denn schon jetzt entsteht eine neue Kultur, sich zu versichern, auch durch die Strafen bei Nichtversicherung. Das ist ein großer Erfolg.
Der Begriff "socialized medicine" fiel sehr häufig im Zusammenhang mit der Einführung von Obamacare. Wie kommt ein solcher Begriff in eine seriöse Reform?
Bahr: Wahlkämpfe laufen noch radikaler ab als bei uns. Viele Amerikaner kennen Europa nicht. Daher sind sie anfällig dafür, dass in Europa alles angeblich sozialistisch ist. Die meisten glauben tatsächlich, dass in Europa alle Systeme so seien wie der NHS in Großbritannien.
Viele sind immer wieder überrascht, wenn ich ihnen erläutere, dass wir freie Arztwahl haben, Freiberuflichkeit und Therapiefreiheit. Sie denken, in Deutschland herrsche Rationierung.
Gleichzeitig gibt es hier bereits in Teilen mehr "socialized medicine" als man denkt. Schauen Sie nur auf Medicare, das Sozialversicherungsprogramm für die Rentner. Dessen Hauptfinanzierung über Steuern birgt ein viel größeres Risiko für den öffentlichen Haushalt.
In Deutschland trägt dieses Risiko die Krankenversicherung. Ein Beispiel ist auch das "Veterans Affair" System (für die US-Veteranen), das über eigene staatliche Kliniken läuft. Über diese Systeme sind mehr Personen versichert als über den NHS in GB..
War grundsätzlich der Schritt hin zu Obamacare richtig?
Bahr: In jedem Fall. Die Welt blickt auf die USA. Sie haben ein höheres BIP als wir es haben, ein enormes Wachstum steht bevor. Dass ein solches Land es nicht schafft, jedem den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, ist mir unverständlich.
Herr Bahr, was werden Sie im Anschluss an Ihre Zeit am CAP machen?
Bahr: Ich komme zurück. Es gibt viele Angebote. Das freut mich auch. Ich werde mich auch weiter in der FDP engagieren. Ich hätte gerne noch als Minister weiter gemacht und wäre danach in die Wirtschaft gewechselt. Jetzt ist es schneller gekommen. Das ist dann auch gut so.