Dr. Andreas Köhler
"Ich bin froh, in Deutschland fast gestorben zu sein"
Der langjährige KBV-Vorsitzende Dr. Andreas Köhler berichtete beim BMC-Kongress von der neuen Perspektive auf das Gesundheitssystem, die durch seine schwere Erkrankung erzwungen wurde – und von seinen Schlussfolgerungen.
Veröffentlicht:Noch vor einem Jahr war ich als Mandatsträger der Ärzteschaft Bestandteil der gemeinsamen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen und zutiefst überzeugt, dass wir alle das Patientenwohl im Fokus haben, auch wenn wir unseren jahrelang eingeübten Verhandlungsritualen in geradezu anankastischer Weise gefolgt sind.
Vorweg: Ich glaube das nach wie vor, aber ich glaube auch, dass unser Fokus, mit dem wir auf das Patientenwohl blicken, etwas unscharf geworden ist und wir ihn anpassen werden müssen.
Zur Person
1981 bis 1987: Studium der Humanmedizin
1989 bis 1994: Studium der Betriebswirtschaft
1995 bis 1997: Referent bei der KBV
1998 bis 2002: Leiter des Dezernats „Gebührenordnung und Vergütung“ bei der KBV
2004: Hauptgeschäftsführer der KBV
Januar 2005 bis März 2014: Vorstandsvorsitzender der KBV
Als Patient mit zweimaliger Reanimation nach Herzstillstand, Stent-Implantation, einer chronischen und einer seltenen Erkrankung sowie einem Medikationsplan mit mehr als fünf Medikamenten, kann ich auch aus der Patientenperspektive sagen, dass wir eines der modernsten und besten Gesundheitswesen in der Welt haben.
Zugang zu Innovationen funktioniert
Der Innovationszugang bei den ärztlichen und veranlassten Leistungen ist auch in der GKV garantiert, er wird gut gesteuert und er erfolgt - trotz aller Unkenrufe - kurzfristig. Ich glaube sagen zu können, dass solche Innovationen Leben retten und ich noch vor fünf Jahren nicht überlebt hätte.
Wir können heute mehr Leben retten und vor allem Leben verlängern, zweifelsohne ein Verdienst des medizinischen Fortschritts und das ist auch gut so. Jedoch müssen wir uns dringend mit dem Fortschritt der Prozesse im Gesundheitswesen beschäftigen.
Alle Beteiligten im Gesundheitswesen, ob Politik und Gesundheitsministerium, Versorgungsforschung, Selbstverwaltung, einschließlich des Gemeinsamen Bundesausschusses - ja sogar die Patientenvertretung - beschäftigen sich grundsätzlich mit einzelnen Teilschritten und Modulen der Versorgung.
Vier Thesen zum Reformbedarf
Erstens: In Zeiten eines erheblichen Innovationsfortschritts in der Medizin ist ein umgekehrtes Informationsgefälle anderer Art zwischen Patient und Arzt entstanden: Medizintechnik und moderne Pharmakotherapie rettet Leben, aber über den Umgang mit diesem geretteten Leben muss ein Dialog zwischen Arzt und Patient stattfinden.
Zweitens: Alle Teilgebiete der Versorgungsforschung müssen zeitlich synchronisiert sein: HTA oder Qualitätsforschung ohne Organisationsforschung, die zum Beispiel die Einführung einer neuen Leistung in die bestehenden Versorgungsprozesse und -strukturen untersucht, ist rausgeworfenes Geld.
Drittens: Case-Management muss endlich sektorenübergreifend etabliert werden. Die aktuelle Gesetzgebung ist dafür geeignet, die gemeinsame Selbstverwaltung muss viel mehr dafür tun.
Viertens: Wir brauchen Medikationspläne und ein Medikationsmanagement.
Dr. Andreas Köhler hat seine Rede mit dem Titel „Perspektive Patient: Erfahrungsbericht und Reformbedarfe“ im Rahmen des BMC-Kongresses am 20. Januar 2015 in Berlin gehalten.
Zwischen Neuzeit und Mittelalter
Da werden HTA-Gutachten (Health Technology Assessment) und RCT-Studien gemacht, es werden jahrelange Diskussionen über die Evidenz geführt, es gibt Qualitätsindikatoren und Richtlinien - aber eben immer zur "vereinzelten" diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme, nie zu Prozessen.
In der Diskussion um Patientenvertretung ist "Shared Decision Making" richtig und gut, auch die Diskussion um den informierten Patienten, ebenso Patienten-Empowerment. Aber was hilft uns das, wenn es notwendig wird, über die Versorgungssektoren hinweg, einzelne diagnostische und therapeutische Teilschritte zu einem Versorgungsprozess zusammen zu schweißen?
Dabei werden sich unmittelbar die Schwächen in unserem Gesundheitssystem zeigen, das technisch absolut in der Neuzeit angekommen ist, in der Koordination der Versorgungsprozesse und im Case-Management sich aber noch im von Sektoreninteressen dominierten Mittelalter aufhält. Wer das nicht glaubt, dem empfehle ich die Verfolgung der Diskussion um den elektronischen Entlass-Brief!
Verlängertes Leben - und dann?
Wenn der Ordinarius einer der besten Kliniken in Deutschland feststellt, dass nur 50 Prozent der Patienten mit Reanimation nach Herzstillstand das erste Jahr überleben und man nachfragt, ob dies - Herrn Professor Gigerenzer sei gedankt - bedeute, dass man bei einer zweimaligen Reanimation nach zweimaligem Herzstillstand zu 100 Prozent das erste Jahr nicht überlebt, mag dies Situationskomik erzeugen, es offenbart aber ein Dilemma: Medizinische Innovation rettet und verlängert Menschenleben, aber sie sagt uns nicht, wie wir mit diesem geretteten bzw. verlängerten Leben umgehen müssen; da hilft kein Internet, kein "Big Data".
Die einfachen Fragen sind es, die interessieren: Was kann ich tun, welche beruflichen Belastungen, welche privaten Belastungen kann man sich zumuten, wie geht man mit seinen Ängsten um?
Zumindest für mich kam dann die Überraschung: Kein Internet, keine medizinische Koryphäe, keine auffindbare Studie, die diese Fragen beantworten kann, nur der Verweis darauf, dass die Psychokardiologie noch eine junge Forschungsrichtung sei
Holger Pfaff hat bei seinen Versuchen, Versorgungsforschung zu beschreiben zwischen den Teilgebieten der Bedarfsforschung, Inanspruchnahmeforschung, Organisationsforschung, HTA, Versorgungsökonomie, Qualitätsforschung und Versor-gungsepidemiologie unterschieden.
Case-Management fehlt
Was ich mit meiner eigenen Erfahrung ausdrücken will, ist die Mahnung an die Versorgungsforschung sich nicht nur mit HTA und ökonomischen Aspekten zu befassen: Wir brauchen auch eine Bedarfsforschung, die sich mit der Frage beschäftigt, was wir an Gesundheitsversorgung benötigen und das ist nicht nur die Innovation in Diagnostik und Therapie.
Was bei uns in Deutschland fehlt, ist Case-Management. Das wissen wir alle, aber wir tun nichts dagegen. Weder die Versorgungsforschung noch die Organisatoren der Gesundheitsversorgung, noch der Normengeber bemühen sich nachhaltig darum, ein sektorenübergreifendes Case-Management zu etablieren. Im Dschungel der Hochleistungsmedizin verirrt sich jeder, selbst ein Arzt und Ärztefunktionär.
Unsere Verantwortung ist es, ein solches Case-Management zu etablieren, mit dafür befähigten Haus- oder Primärärzten, einer funktionierenden Patientenakte, einem effizienten Schnittstellenmanagement und einer Telematik-Plattform, die diesen Namen auch verdient.
Streit um Medikationsmanagement
Ich bin auch sicher, dass jeder der Beteiligten im Gesundheitswesen weiß, was zu tun ist, nur muss man es endlich auch tun. Dies betrifft auch die leidige Frage des Medikationsmanagements: Wenn Sie so wie ich wegen der nicht verzichtbaren Medikation zweier unterschiedlicher Erkrankungen mit unstillbarem Nasenbluten die eine oder andere Notfallaufnahme aufgesucht haben, wird Ihnen die Notwendigkeit bewusst und Sie bekommen große Lust, dieses Thema nicht auf dem Altar des Streites zwischen Apotheker und Arzt zu opfern.
Und lassen sie mich noch einen weiteren Punkt ansprechen: Wenn ich mich an die Zeit erinnere, wo im GBA in HTA-Berichten hochkomplexe Materie vermittelt wurde, auch noch die seltenste Nebenwirkung beraten wurde und über die geeignetste Vergleichstherapie gestritten wurde, frage ich mich im Nachhinein, ob wir uns nicht auch mit der Einnahmetreue bei dementen Patienten befassen müssten.
So mancher Blister erfordert ziemliche Kraft, um das Medikament aus der Verpackung zu bekommen und ich leide nicht unter Muskelschwund. Wir haben ein sehr leistungsfähiges modernes Gesundheitswesen, das beispielhaft ist. Ich bin froh, in Deutschland fast gestorben zu sein. Wir müssen es nur zukunftssicher machen!