Impfgegner

Impfen und zweifeln – Damals wie heute

Vor 145 Jahren erließ der deutsche Reichstag das Reichsimpfgesetz, ein strafbewehrter Impfzwang gegen Pocken. In der Folge organisierten sich die bis dahin eher verstreut agierenden Impfgegner neu.

Von Thomas Meißner Veröffentlicht:
Impfgegner protestieren im Juli 2017 in Rom. Italien debattierte damals über eine erweiterte Impfpflicht, die für zehn Infektionskrankheiten gelten sollte.

Impfgegner protestieren im Juli 2017 in Rom. Italien debattierte damals über eine erweiterte Impfpflicht, die für zehn Infektionskrankheiten gelten sollte.

© Patrizia Cortellessa / Pacific Press

„Seit Jahren zur Abwechslung auch mit dem Studium der Naturheilmethode beschäftigt, kam ich ... zu der Ueberzeugung, daß die Vaccination ein nutzloses und gefährliches Experiment sei am Volkskörper.“ So begründet Dr. Heinrich Hansjakob in seinem „Büchlein über das Impfen“ (Freiburg 1869) seine Motivation, „dem badischen Volke“ Aufklärung zuteilwerden zu lassen. Hansjakob war Geistlicher und Heimatschriftsteller. Doch, so schrieb er, würden es „die Herren Mediziner“ ihm wohl nicht verübeln, „wenn einmal ein Theologe einen medizinischen Glaubensartikel umstößt!“

Damals wie heute

Seit es Impfungen gibt, gibt es Skeptiker und Impfgegner. Wo sich heute Diskussionen um Masern oder Influenza drehen, ging es damals um die oft todbringenden Pocken. Die Parallelen der damaligen Diskussionen zu heute sind frappierend: Damals wie heute stehen medizinisch nicht ausgebildete Menschen in der ersten Reihe der Impfgegner. Damals wie heute tauchen regelmäßig dieselben Namen publizistisch sehr aktiver Protagonisten auf, wohingegen die Reaktionen aus der Ärzteschaft eher verhalten ausfallen. Und damals wie heute wollen Politiker die Frage ein für alle Mal per Gesetz lösen. Daher lohnt es sich, die Folgen des Reichsimpfgesetzes von 1874 zu betrachten.

Die Pocken (Blattern, Variola) forderten im 19. Jahrhundert in den Ländern des Deutschen Bundes jährlich tausende Opfer. Bei der letzten großen Pockenepidemie 1870 und 1873 in Deutschland mit mehr als 400 000 Erkrankten starben 181 000 Menschen. In einigen Bundesstaaten sowie beim Militär gab es bereits die unter Umständen strafbewehrte Verpflichtung, sich gegen Pocken impfen zu lassen, etwa in preußischen Provinzen oder im Großherzogtum Sachsen. Besonders bei Epidemien hatten die Behörden die Befugnis, „Zwangs-Vaccinationen“ vornehmen zu lassen. Jedoch waren die Gesetze und Verordnungen der einzelnen Staaten im Detail sehr verschieden.

Das Reichsimpfgesetz von 1874, unterzeichnet von Reichskanzler Otto von Bismarck, hatte eine Vereinheitlichung der Regelungen zum Ziel. Jedes Kind sollte bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr gegen Pocken geimpft werden, „sofern es nicht nach ärztlichem Zeugnis die natürlichen Blattern überstanden hat“ und: „jeder Zögling einer öffentlichen Lehranstalt oder einer Privatschule... innerhalb des Jahres, in welchem der Zögling das zwölfte Lebensjahr zurücklegt...“ Denn die nach heutigen Maßstäben nicht standardisierte Impfung verhinderte nicht immer lebenslang die Pocken. Dabei muss erwähnt werden, dass damals weder die Ursache echter Pocken, noch der Unterschied zu Windpocken bekannt waren.

Es oblag also den Schulleitern, den Nachweis der Pflichtimpfung zu kontrollieren, versäumte Impfungen mussten den Behörden gemeldet werden. Zuwiderhandlung konnte mit bis zu 50 Mark oder drei Tagen Ordnungshaft bestraft werden. Schulvorsteher oder Ärzte, die ihren Pflichten nicht nachkamen, zahlten Geldstrafen bis zu 100 Mark – fast der Monatslohn eines mittleren Beamten.

Erst mit dem Erlass des Reichsimpfgesetzes 1874 habe die Impfgegner-Bewegung einen organisierten Charakter erfahren, schreibt Dr. Patrick T. Mayr aus Marburg in seiner Dissertation „Die Impfgegnerschaft in Hessen – Motivationen und Netzwerk (1874-1914)“. So diente das 1881 gegründete Monatsblatt „Der Impfgegner“ als öffentliches Forum und als Organisationsplattform für ein regionales und überregionales Impfgegner-Netzwerk. „Der ‚Impfgegner‘ verstand sich als Sprachrohr und Medium des Widerstandes gegen das Impfen sowie gegen die Befürworter der Impfung“, so Mayr. Es sollten Fälle von Impfversagen oder Impfkomplikationen gesammelt und Aussagen von Impfbefürwortern sowie das tagespolitische Geschehen kommentiert werden. Der „Deutsche Bund der Impfgegner“ brachte 1908 einen „Ratgeber für Impfprozesse“ heraus, in welchem detaillierte Verhaltensregeln für Impfgegner sowie Vorlagen für Schreiben an die Behörden zusammengestellt wurden, um die Pockenimpfung zu umgehen, möglichst unter Vermeidung von Strafe.

Unterschiedliche Motivationen

Mayrs Analyse verdeutlicht einerseits, dass „fast alle Impfgegner in persönlicher oder ideologischer Verbindung zueinanderstanden“, andererseits, dass die Motivationen der Impfgegnerschaft sehr verschiedene waren. Manche zweifelten den Sinn von Impfungen gar nicht an, hatten aber etwas gegen den „Impfzwang“ oder fürchteten unerwartete Langzeitwirkungen. Vegetarier wehrten sich gegen das Einbringen tierischen Materials (Impflymphe aus Kuhpocken) in den menschlichen Körper. Anhänger der Naturheilkunde sahen Pockenerkrankungen als Folge mangelhafter Hygiene an. Reinlichkeit im Haus und persönliche Sauberkeit, regelmäßiges Durchlüften der Wohnräume und vegetarische Ernährung könne Infektionen verhindern, so einer der maßgeblichen Impfgegner Peter Spohr (1828-1921), ein preußischer Offizier. Dieser hatte seine beiden Söhne Peter und Curt Spohr in naturheilkundlichem Sinne erzogen - der eine wurde Arzt, der andere Jurist und beide bestimmten später ebenfalls die Diskussionen in der hessischen Impfgegner-Szene mit. Auch Wassertherapien waren im 19. Jahrhundert sehr beliebt. Mit Kälte, Wärme, Trinken kalten Wassers, feuchten Umschlägen, Diät und frischer Luft glaubte man, auch schwere Krankheiten behandeln zu können.

Wenn an die Eltern die polizeiliche Aufforderung gerichtet wird, das Kind impfen zu lassen und die Betroffenen Gegner der Impfung sind, so ist das erste Gebot: Zeit gewinnen!.

Aus dem „Ratgeber für Impfprozesse“,

Die Ärzte Zeitung dankt Professor Christoph Rosak, Frankfurt am Main, für das Zurverfügungstellen des historischen Recherchematerials.

Weiterhin stellten Impfgegner die Wirksamkeit der Impfung infrage. In den Reichstagsdebatten zum Impfgesetz bezweifelten manche Redner, dass diese tatsächlich bewiesen sei. Nach heutigen Ansprüchen an Statistik und Wissenschaft hatten sie wohl recht. Gleichwohl war offensichtlich, dass etwa unter Soldaten sowie in Bundesstaaten mit bereits bestehender Impfpflicht die Erkrankungs- und Sterberaten deutlich zurückgegangen waren.

Schließlich wurde von Impfgegnern gezielt die Angst vor schwerwiegenden Folgen der Impfung geschürt, etwa durch den Frankfurter Ingenieur Hugo Wegener mit seinen Büchern „Segen der Impfung“ (1911), „Unerhört“ (1911) und „Impffriedhof“ (1912). Erklärtes Ziel: Mütter „in Furcht und Schrecken“ zu versetzen und „die Impfung im Auge des Volkes herabsetzen.“ Dazu sammelte er unter anderem zehntausende Berichte und Fotografien angeblicher Impfopfer, meist Kindern, und veröffentlichte diese im Verlag seiner Frau.

Welche Resonanz die Impfgegner in der breiten Öffentlichkeit gehabt haben, lasse sich heute nicht mehr nachvollziehen, erklärt Mayr im Gespräch mit der „Ärzte Zeitung“. Da die Fundamentalkritik an der Pockenimpfung bevorzugt von medizinischen Laien geäußert wurde, hielt es die Ärzteschaft damals offenbar nicht für nötig, in irgendeiner Weise zu reagieren.

So hat Mayr die Ausgaben der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“ im Zeitraum von 1908 bis 1914 durchforstet und keinen einzigen relevanten Beitrag zum Thema Impfgegner gefunden. In dieser Zeit veranstalteten Impfgegner bereits mehrtägige Kongresse, etwa in Frankfurt am Main. „Womöglich wollten die Ärzte den Impfgegnern kein allzu großes Podium bieten, vielleicht sich aber auch nicht wirklich damit befassen“, vermutet der Marburger Arzt.

Doch auch unter Ärzten gab es Impfkritiker und Impfgegner. So gründete 1908 ein Sanitätsrat Dr. Eugen Bilfinger mit weiteren Kollegen in Eisenach den „Verein impfgegnerischer Ärzte“. Bilfinger kritisierte „grauenhafte Impfschädigungen“, die es zweifelsohne aufgrund der mangelhaften Impfhygiene auch gegeben hat. Er verfasste mit fünf weiteren Gründerärzten des Vereins ein Telegramm an den deutschen Kaiser, in dem er die „amtliche Einberufung einer unparteilichen Kommission zur erneuten Untersuchung der strittigen Impfzwangsfrage“ vorschlug, und zwar „im Interesse der gefährdeten deutschen Wehrkraft“. Über eine Antwort des Kaisers ist nichts bekannt, ebenso wenig über die Mitgliederzahl des Ärzte-Vereins.

Seit 1980 gelten die Pocken weltweit als ausgerottet. Bereits seit 1976, mehr als 100 Jahre nach Inkrafttreten des Reichsimpfgesetzes, ist die Pockenimpfung in Deutschland nicht mehr verpflichtend. Die Gesellschaft, die Lebensverhältnisse, das Spektrum bedrohlicher, aber vermeidbarer Infektionen und das Wissen um deren Ursachen, Verbreitung und Folgen haben sich geändert. Die argumentativen Grundmuster heutiger Impfgegner folgen jenen von damals.

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