COVID-19-Patienten
Intensivmediziner warnen vor drohender Überlastung
Auf Deutschlands Intensivstationen rollt in der Corona-Pandemie eine COVID-19-Welle zu, die jene vom Frühjahr weit übertreffen könnte. In 14 Tagen kämen die großen Zentren unter Maximalbelastung, warnt ein Experte für Intensiv- und Notfallmedizin.
Veröffentlicht:Berlin. Auf Deutschlands Intensivstationen ballt sich angesichts der rasant steigenden Corona-Infektionszahlen Wut, Frust und Traurigkeit. „Es ist jetzt schon nachweislich schlimmer als im Frühjahr“, sagt Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), der Deutschen Presse-Agentur.
„In 14 Tagen haben wir die schweren Krankheitsfälle und unsere großen Zentren kommen unter Maximalbelastung.“ Kliniken müssten sich deshalb bereits jetzt fragen, bei welchen Patienten sie vereinbarte Operationen guten Gewissens verschieben könnten. Die Devise könne nur lauten: „Fahrt runter!“.
Infektionsgeschehen
So hoch ist die Corona-Inzidenz in den einzelnen Städten und Landkreisen
„Absolut besorgniserregend“
In Berlin, Bayern und Nordrhein-Westfalen seien einige Kliniken schon gut mit COVID-19-Patienten belegt, andere Erkrankte würden bereits verdrängt, sagte Stefan Kluge, Leiter der Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE).
Die Lage sei „absolut besorgniserregend“. Von den Infizierten müssten etwa fünf Prozent im Krankenhaus behandelt werden, zwei Prozent auf der Intensivstation, so Kluge. Über 70-Jährige hätten ein Todesrisiko von über 50 Prozent.
Das Problem ist dabei nicht so sehr die Zahl der Intensivbetten. „Wir haben mehr Betten und mehr Beatmungsgeräte als zu Beginn der Pandemie. Aber wir haben nicht eine müde Maus mehr beim Personal“, sagte Janssens der dpa. „Bis jetzt sind wir zurechtgekommen. Aber wir müssen die Pflegepersonal-Untergrenzen wieder aussetzen, wenn das so weitergeht.“
Die DIVI führt das Register, das die bundesweit freien Intensivbetten anzeigt. Damit soll auch eine Verlegung aus stark ausgelasteten Kliniken in Häuser mit Kapazitäten ermöglicht werden. Die Zahlen werden täglich aktualisiert. Die Intensivbetten sollen dabei mit dem nötigen Pflegepersonal berechnet werden.
Städte und Landkreise
Wo es relativ viele COVID-19-Patienten auf Intensivstationen gibt
Immer mehr Infektionen unter Klinikmitarbeitern
Doch der einhellige Tenor aus vielen deutschen Uni-Kliniken lautet Janssens zufolge jetzt schon: Es gibt auch eindeutig mehr Infektionen unter Klinik-Mitarbeitern. „Wir haben im März und April kaum Infektionen gehabt, die jemand von draußen hereingetragen hat“, erläutert er. „Jetzt haben wir in kürzester Zeit Mitarbeiter, die positiv sind. Sie sind sofort raus.“
Andere hätten engen Kontakt zu positiv Getesteten gehabt. „Die sind dann auch noch weg.“ Das Schichtsystem auf Intensivstationen könne damit schnell aus den Fugen geraten. Ein beatmeter COVID-19-Patient braucht allein bis zu fünf Schwestern oder Pfleger.
Vor einem Personal-Notstand hatte in dieser Woche bereits die Deutsche Gesellschaft für Fachkrankenpflege gewarnt. „Wenn es zu einem massiven Anstieg von Corona-Patienten in den Intensivstationen kommt, werden nicht alle fachgerecht betreut werden können“, hieß es. Nicht, weil es an Intensivbetten mangele, sondern an qualifiziertem Fachpflegepersonal.
Vorwurf der egoistischen Grundhaltung
„Wir richten unseren Aufruf auch an alle Mitarbeiter im Krankenhaus: „Leute, ihr seid systemrelevant. Auch, wenn ihr das Krankenhaus verlasst“, berichtet Janssens, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin und Internistische Intensivmedizin am St.-Antonius-Hospital im nordrhein-westfälischen Eschweiler.
Da sei eine Party einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Er selbst sei großer Opern- und Theaterfan. „Ich vermisse das wahnsinnig“, ergänzte Janssens. „Aber ich sehe es als gesellschaftliche Aufgabe und Verpflichtung an, mich da zurückzuhalten. Damit schütze ich viele, viele andere.“
Er sei nicht sauer, er sei vielmehr traurig über die Entwicklung der Infektionszahlen. „Der persönliche Spaß ist vielen wichtiger als die Gemeinschaft“, urteilt Janssens. Die momentane Lage habe seiner Ansicht nach viel mit einer egoistischen Grundhaltung zu tun.
„Wenn die Leute mehr „du“ denken würden, liefe es sicher besser. Ich sage gern: „Kommt doch mal eine Stunde auf die Intensivstation und guckt euch einen COVID-19-Patienten an. Wie er da auf dem Bauch liegt und was die Schwestern da leisten müssen.“
Strategiewechsel ist nötig
Es sei offensichtlich nicht gelungen der Bevölkerung klarzumachen, was AHA-Regeln sind. Alle gut gemeinten Hinweise haben da aus Janssens Sicht nichts gebracht. „Deshalb wird man um eine Strategieänderung nicht herumkommen.“
Ein Lockdown? Unter Infektionsschutz-Gesichtspunkten sei es natürlich toll, wenn alle drei Wochen zuhause bleiben, sagte der Mediziner. „Aber dann haben wir eben in sechs Wochen die nächste Welle. Wir müssen endlich in eine Nachhaltigkeits-Debatte einsteigen.“
Ein Blick auf die derzeit nur langsam steigende Zahl der Todesopfer tauge nicht zur Einschätzung der aktuellen Lage, sagte auch Janssens Kollege Stefan Kluge in Hamburg. „Wir müssen auf die Zahl der Intensivpatienten gucken. Dann wissen wir, wohin die Reise geht.“ Derzeit gehe die Kurve steil nach oben.
Es dauere im Schnitt zehn Tage, bis Patienten mit Symptomen auf die Intensivstation verlegt werden müssten. Die Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation bei beatmeten Patienten betrage zwei bis drei Wochen. Das bedeute, dass sich die Zahl der Neuinfektionen erst mit einer Verzögerung von drei bis vier Wochen auf die Zahl der Todesfälle auswirke. (dpa)