Positionspapier der Ärzte
Kampf gegen Corona ein „Marathon“ – und kein „kurzer Sprint“
Die von Ärzteverbänden und Wissenschaftlern ausgearbeitete Anti-Corona-Strategie kommt in weiten Teilen der Ärzteschaft gut an. Virologen betonen: Mit einem begrenzten Lockdown bekommt man das Coronavirus nicht in den Griff.
Veröffentlicht:Berlin. Das Positionspapier der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und Vertretern aus der Wissenschaft zu einer Anti-Corona-Strategie erfährt breite Zustimmung aus der Ärzteschaft. Viele Ärzteverbände und Fachgesellschaften hätten sich hinter die Argumente der Autoren gestellt.
Die Zahl der Unterstützer des Papiers mit dem Titel „Evidenz-und Erfahrungsgewinn im weiteren Management der COVID-19-Pandemie berücksichtigen“ erreiche 200.000, berichtete KBV-Chef Dr. Andreas Gassen am Mittwochmittag.
Unterzeichnet haben unter anderen der Deutsche Hausärzteverband, die Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin, der NAV-Virchowbund, der Spitzenverband Fachärzte Deutschland mit 35 Mitgliedsverbänden, der Spitzenverband ZNS, die Bundespsychotherapeutenkammer und die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung, um nur einige zu nennen.
Gassen: Mit dem Rechenschieber klappt‘s nicht
Er sei überrascht, wie schnell sich diese große Zahl an Verbänden auf das Papier eingelassen habe, sagte Gassen. Er wisse aber, dass viele auf ein Papier dieser Art gewartet haben.
„Die ärztliche Position ist sehr lange nicht gehört worden“, betonte der KBV-Chef. „Wir werden die Pandemie nicht am Rechenschieber besiegen“, sagte Gassen mit Blick auf die Fixierung vieler politischer Entscheidungsträger auf den Anstieg der Infiziertenzahlen. „Das werden die Ärzte mit den Patienten hinbekommen“, prognostizierte Gassen.
Am Mittwochnachmittag verteidigten die Autoren ihre Positionen vor der Presse. „Es geht nicht darum, die Lage zu verharmlosen“, sagte der Virologe Professor Hendrik Streeck von der Universität Bonn. Es gehe aber darum, dass sich das Virus mit einem „kurzen Sprint“, wie ihn ein begrenzter Lockdown darstelle, nicht in den Griff bekommen lasse.
Streeck: „Stehen vor einem Marathonlauf“
„Wir müssen uns auf einen Marathon vorbereiten“, forderte Streeck. Das bedeute, die zur Verfügung stehenden Ressourcen zum Beispiel an Tests vor allem auf die Risikogruppen zu konzentrieren, also auf ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen.
Er rechne nicht damit, dass Angela Merkel und die Regierungs-Chefs der Länder das Konzept bereits aktuell aufgreifen würden. Aber: „Nach der Konferenz ist vor der Konferenz“, sagte Streeck. Bald würden die politisch Verantwortlichen wieder zusammensitzen.
Wir können nicht das ganze Land in ein „künstliches Koma“ versetzen, warnte Gassen. Er verwies auf die Nachbarländer, in denen trotz harter Einschränkungen des Alltagslebens die Zahlen durch die Decke gingen. Er würde den politisch Verantwortlichen daher von allzu tiefen Alltagsbeschränkungen abraten. Da das Virus Teil der Lebensrealität bleiben werde, könne man nicht alle vier Wochen mal eben das ganze Land herunterfahren.
Schmidt-Chanasit: Ressourcen richtig einsetzen
Der Virologe Professor Jonas Schmidt-Chanasit von der Universität Hamburg warnte vor Sprachverwirrung. Jeder verstehe unter einem Lockdown etwas anderes. Klar sei allerdings, dass es keinen Sinn ergebe, Hotels, Restaurants, Theater und andere Einrichtungen mit Hygienekonzepten zu schließen, in denen keine Infektionen aufgetreten seien. Damit würden Existenzen zerstört.
Es gehe vielmehr darum, die vorhandenen Ressourcen und dazu zählten auch die Ärzte vor Ort, an den richtigen Stellen einzusetzen und nicht „durch Kollateralschäden unwirksam tätig“ zu werden. Sowohl Schmidt-Chanasit als auch Streeck verneinten eine Evidenz dafür, dass solche Schließungen das Infektionsgeschehen maßgeblich beeinflussten. Es bedürfe besserer Daten, um die Eingriffe in den Alltag zu begründen.
Hofmeister: „Stress für alle“
„Wir wissen als Ärzte, dass ein dauerhafter Zustand von Angst und Erregung Spuren hinterlässt“, warnte KBV-Vize Dr. Stephan Hofmeister vor möglicherweise gesundheitsschädigenden Auswirkungen der Corona-Politik.
„Das bedeutet Stress für alle, sagte der Hausarzt. Die niedergelassenen Ärzte in Deutschland versorgten jeden Tag 1,8 Millionen Patienten, 800.000 bis 900.000 von ihnen mit ernsthaften Erkrankungen. Diese „ungeheure Aufgabe“ der Ärzte bei den Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus müsse mitbedacht werden, forderte Hofmeister.
Vergessen werden dürfe auch nicht, dass seit März 19 von 20 COVID-19-Patienten ambulant behandelt worden seien. Eine echte Gefahr werde heraufbeschworen, wenn die Ärzte das nicht mehr leisten könnten.