Leitartikel

Krisenberatung für Pflegende sollte die Regel sein

Die Zahl der pflegenden Angehörigen wird in Zukunft stark steigen. Immer mehr Menschen werden daher Hilfe in Krisensituationen benötigen. Doch das Thema wird von den Bundespolitikern bislang ausgeblendet.

Angela MisslbeckVon Angela Misslbeck Veröffentlicht:
Die Betreuung von Angehörigen kann belasten. Krisenberatungsstellen sind überlaufen.

Die Betreuung von Angehörigen kann belasten. Krisenberatungsstellen sind überlaufen.

© AvailabaleLight / iStock

Überforderte Pflegekräfte beim Heimbesuch, Angehörige am Rande des Nervenzusammenbruchs: Jeder Arzt weiß aus eigener Anschauung, wie sehr Pflegesituationen die Pflegenden belasten können.

Oft hilft es den Angehörigen, wenn der Doktor ein offenes Ohr hat, und den Pflegekräften in Heimen und Diensten, wenn er Verständnis für den Druck signalisiert, unter dem sie stehen. Doch manchmal bedarf es weitergehender und längerfristiger Hilfe.

An dieser Stelle setzen Krisendienste wie die Berliner Beratungsstelle "Pflege in Not" ein, die dieser Tage ihr 15-jähriges Bestehen feiert. Leiterin Gabriele Tammen-Parr sagt: "Manchmal brauchen Pflegende eine stützende Hand im Rücken, die sie begleitet."

1999 als in Berlin, München, Nürnberg und Schleswig-Holstein die ersten Beratungsstellen bei Gewalt in der Pflege gegründet wurden, war das Thema total tabuisiert. Bekannt waren Probleme in der Pflege nur aus Skandal-Berichten über unhaltbare Zustände in Pflegeheimen.

An Gewalt in der häuslichen Pflege dachte noch kaum jemand. Einrichtungen wie "Pflege in Not" standen in der Kritik. Man warf ihnen vor, das Ansehen der Pflegebranche zu beschädigen. "Wir haben sehr viel Ablehnung gegen das Thema gespürt", berichtet Tammen-Parr.

15 Jahre später hat sich viel verändert. Tammen-Parr traut sich inzwischen, öffentlich Sätze zu sagen wie: "Aggressionen gehören zum Leben und zur Pflege dazu." Oder "Pflege ist eine Beziehung. Auch der Pflegebedürftige ist in der Lage, Öl ins Feuer zu gießen."

Das Einsehen, dass Pflegebedürftigkeit hohe Belastungen für alle Beteiligten mit sich bringt, ist seit 1999 deutlich gewachsen. Doch dieser Erkenntnis sind bislang zu wenige Taten gefolgt.

Zu wenige Beratungsstellen

Bundesweit gibt es gerade einmal 13 bis 14 sogenannte pflegeergänzende Spezialberatungsstellen. Die meisten von ihnen leiden unter einer unzureichenden Finanzierung. Dabei werden immer mehr Menschen pflegebedürftig. Allein in Berlin steigt die Zahl der Pflegebedürftigen von derzeit rund 100.000 auf 170.000 im Jahr 2030.

Damit wächst auch der Bedarf an Krisenberatung in der Pflege. "Pflege in Not" ist schon jetzt an die Grenzen geraten, kann nicht ausreichend die Nachfrage bedienen, sei es an Fortbildungen für die Profis oder an Beratungen für Familienangehörige und Pflegebedürftige.

Rund 170 bis 180 Beratungsgespräche führen die auf zwei Vollzeitstellen verteilten drei Mitarbeiterinnen pro Monat. Mehr als die Hälfte aller Ratsuchenden (57 Prozent) braucht nicht nur einmalige Unterstützung, sondern mehrere Gespräche. Nicht immer sind es die großen Probleme. Gewalt - meist psychische Gewalt - spielt "nur" bei rund einem Drittel der Gespräche eine Rolle.

Viel häufiger geht es um Überforderung, Konflikte und Aggressionen. Das ist ein gutes Zeichen, denn es legt nahe, dass viele inzwischen zum Telefon greifen, bevor der Super-GAU in der Pflege eintritt. Auch das dürfte ein Verdienst der Einrichtungen sein.

Doch nun droht ihnen ihr eigener Erfolg zum Verhängnis zu werden, und sie sind ihrerseits auf Unterstützung angewiesen. Politik und Pflegekassen sind hier in der Pflicht. Wer will, dass Pflege auch künftig unter den Bedingungen des wachsenden Fachkräftemangels noch funktioniert, muss Vorsorge treffen für die Fälle, wo sie nicht mehr funktioniert.

Wer Angehörige verstärkt in die Pflege einbinden will, muss ihnen auch entsprechende Unterstützung an die Seite stellen. Pflegeberatung ist dabei für den Pflegealltag gut. Doch für die schwarzen Tage in der häuslichen Pflege braucht es eben auch Spezialberatung, und zwar in deutlich größerem Ausmaß als bisher.

Spezielle Beratung ist gefragt

Schon jetzt pflegen Angehörige ihre Familienmitglieder im Schnitt zehn Jahre lang. Dabei versorgen viele nebenbei noch Kinder und gehen einem Beruf nach. "Die meisten Menschen fangen liebevoll an zu pflegen, doch irgendwann kommt der Tag, wo sie an ihre Grenzen stoßen", sagt Tammen-Parr. Für diesen Tag will vorgesorgt werden, denn er ist so normal wie die durchschnittlich 3651 anderen.

Die große Pflegereform, die Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) für das nächste Jahr angekündigt hat, muss daher auch die Krisenberatungsstellen in der Pflege umfassen.

Sie dürfen nicht länger ehrenamtliche und freiwillige Insellösungen bleiben, die von Förderbescheid zu Förderbescheid hecheln und wieder eingehen, wenn die Förderung ausbleibt. Nötig ist vielmehr, dass endlich auch die Bundespolitiker anerkennen, dass Gewalt in der Pflege zum Alltag gehört.

Pflegeberatungsstellen unterstützen Angehörige bei Organisation und praktischen Fragen. Das ist gut. Doch lassen sich auch die emotionalen Aspekte der Pflege nicht auf Dauer unter den Tisch kehren. Deshalb dürfen Spezialberatungsangebote nicht länger Ausnahmeerscheinungen bleiben, sondern müssen Bestandteil der Regelversorgung werden.

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