Ländliche Versorgung
Digitale Medizin ist mehr als ein Lückenfüller
Telemedizin und andere digitale Angebote sollen ländliche Strukturschwächen ausgleichen. Doch sie können mehr, zeigen zwei Kassen.
Veröffentlicht:Berlin. Inwieweit können digitale Angebote helfen, medizinische Versorgung in strukturschwachen ländlichen Regionen zu sichern und auch den Ärztemangel abzufedern? Die AOK und die Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau (SVLFG) haben hier gute Erfahrungen gemacht. Allerdings funktionierten die digitalen Angebote nur, wenn es vor Ort auch ein starkes menschliches Netzwerk gibt.
„Ärzte. Pflegekräfte und andere Leistungserbringer müssen eng zusammenarbeiten“, sagte AOK-Chef Martin Litsch beim „14. Zukunftsforum Ländliche Entwicklung“ des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Zusätzlich seien Multiplikatoren notwendig, ergänzte Stefan Adelsberger, Leiter des Telezentrums „Mit uns im Gleichgewicht“ der SVLFG. „Wir arbeiten etwa eng mit den Landfrauen zusammen.“
Weg von Holstruktur hin zur Bringkultur
Generell müssten die Krankenkassen weg von einer Holstruktur hin zu einer „Bringkultur“, um die Menschen in den dörflichen Lebenswelten zu erreichen, so Adelsberger. Das Telezentrum der SVLFG bietet unter anderem Online-Trainings für Burn-out-gefährdete Versicherte, aber auch telefonische Einzelfall-Coachings und eine 24-Stunden-Krisenhotline, die mit erfahrenen Psychologen besetzt ist. „Niedergelassene Psychologen sind in den ländlichen Regionen rar“, sagte er.
Dabei können die Versicherten die Angebote auch anonym in Anspruch nehmen. Das macht es offenbar insbesondere Männern leichter, sich Hilfe zu holen: „Über 50 Prozent unserer Teilnehmer am Online-Coaching sind Männer“, berichtete Carolin Lorenzer von der SVLFG.
Oft seien es eben die hohe Flexibilität – die Versicherten entscheiden selbst, wann und wie sie das Coaching nutzen – und die Anonymität, die sie dazu bewegten, teilzunehmen. Bei der Klientel der Kasse, die Selbstständige und mitarbeitende Familienangehörige versichert, zwei entscheidende Faktoren, so passt das Angebot in die Arbeitswelt.
AOK kooperiert mit Arztnetzen
Die AOK, die ebenfalls viele Versicherte auf dem Land hat, setzt zudem auf die Kooperation mit Arztnetzen. Ein Beispiel ist die eNurse, die im fränkischen Arztnetz „UGHO – Unternehmung Gesundheit Hochfranken“ unterwegs ist, finanziert über einen integrierten Versorgungsvertrag mit der AOK. Sie übernimmt für Hausärzte im Netz Hausbesuche etwa bei chronisch kranken Patienten.
Dabei ist sie mit einem Tablet ausgestattet, über das sie Befunddaten direkt in die Praxissoftware einspielen kann und hat unter anderem auch ein 12-Kanal-EKG und ein mobiles Kartenlesegerät für die Gesundheitskarte dabei.
„Wir haben berechnet, dass sie pro Monat im Schnitt eine Entlastung von 54 Arztstunden bringt – angenommen ein Hausbesuch dauert 35 Minuten“, erläuterte UGHO-Geschäftsführerin Alexandra Eichner. Wertvolle Zeit, die für die Versorgung anderer Patienten zur Verfügung stünde, denn in der Region ist die Hälfte der niedergelassenen Ärzte 60 Jahre und älter. „Wir stehen kurz vorm Ärztemangel und müssen Projekte entwickeln, die Ärzte entlasten“, so Eichner.
„NäPa eine große Hilfe“
Netz- und Hausarzt Ulrich Voigt ist von der eNurse und auch den Nichtärztlichen Praxisassistentinnen (NäPa), die unterwegs sind, begeistert: „Da sind Mitarbeiter, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. Das ist eine große Hilfe.“
Das Projekt wurde im November 2017 aufgelegt und zumindest die Förderung als Pilot auch mit Zuschüssen der KV Bayerns und des Bundesforschungsministeriums ist Ende 2020 ausgelaufen. Mit der AOK Bayern wurde nun zunächst eine Verlängerung um ein weiteres Jahr im Rahmen der integrierten Versorgung vereinbart. „Wir hoffen aber, dass die eNurse fester Bestandteil des IV-Vertrages wird“, so Eichner.
Um Menschen auf dem Land kümmern
Immerhin werden im UGHO über 15000 AOK-Versicherte von 73 Haus- und Fachärzten versorgt. Für andere Kassen sei das Netz bislang zu klein, um ähnliche Verträge abzuschließen, so Eichner. Voit, der seit 33 Jahren Hausarzt ist, indes wirbt kräftig für die eNurse: „Mit ihr waren wir auch in der Corona-Pandemie vor Ort bei den Patienten.“
„Die Menschen auf dem Land haben oft die Sorge, dass sie abgehängt werden“, meinte der AOK-Bundesvorsitzende Martin Litsch. Mit den digitalen Angeboten könnten die Kassen auch zeigen, dass sie sich kümmern. Die AOK hat vor zwei Jahren die „Initiative Stadt.Land.Gesund“ aufgelegt, um das Niveau der Gesundheitsversorgung in Stadt und Land wieder einander anzunähern. (reh)