Menschenrecht Medizin
Migranten sollen keine Angst mehr vor Arztbesuch haben müssen
Verhindern behördliche Meldepflichten in Deutschland, dass Migranten ohne gültigen Aufenthaltsstatus ihr Grundrecht auf medizinische Versorgung wahrnehmen? Das soll die EU-Kommission jetzt prüfen.
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Jeder hat ein Recht auf medizinische Versorgung. Hilfsorganisationen kritisieren jedoch melderechtliche Hürden in Deutschland, insbesondere für Menschen ohne Aufenthaltsstatus, die sie nicht akzeptieren wollen.
© Georg Wendt / dpa / picture alliance
München. Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Deutschland sollen keine Angst vor dem Arztbesuch haben müssen: Dafür macht sich die Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) jetzt auf europäischer Ebene stark.
Unterstützt von 30 weiteren karitativen Organisationen – darunter etwa ProAsyl, Ärzte der Welt oder der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte – wurde am Mittwoch bei der EU-Kommission eine förmliche Beschwerde gegen die Bundesrepublik eingereicht.
Konkret monieren die Hilfsorganisationen, „dass die durch Paragraf 87 des Aufenthaltsgesetzes vorgeschriebene Datenweitergabe an die Ausländerbehörde Menschen ohne Papiere davon abhält, ihr verfassungs- und europarechtlich verbürgtes Recht auf medizinische Versorgung wahrzunehmen.“ Infolgedessen blieben lebensbedrohliche Erkrankungen unbehandelt, Schwangere kämen nicht zur Vorsorgeuntersuchung und Covid-19-Infektionen blieben unentdeckt.
Zur Erläuterung der Rechtslage heißt es, sobald sich Personen ohne geregelten Aufenthaltsstatus an die Sozialbehörde wendeten, um einen Behandlungsschein für einen Arztbesuch zu erhalten, drohe ihnen die Abschiebung. Denn Paragraf 87 des Aufenthaltsgesetzes verpflichte die Sozialbehörde dazu, diese Personen der Ausländerbehörde zu melden. „Aus Angst vor einer Abschiebung meiden Betroffene es daher, eine Arztpraxis aufzusuchen.“
Begleitende Petition
De facto würden Migranten damit vom „Menschenrecht auf Gesundheitsversorgung ausgeschlossen“, so Ärzte der Welt-Direktor François De Keersmaeker. Neben der Verletzung des Rechts auf ärztliche Versorgung und Gesundheitsvorsorge nach Artikel 35 der EU-Grundrechtecharta, verstoße der Paragraf 87 außerdem gegen europäisches Datenschutzrecht.
Denn die Datenschutzgrundverordnung erlaube eine „zweckentfremdende Weitergabe von Daten nur, wenn sie notwendig und verhältnismäßig ist“. Was hier jedoch nicht der Fall sei, wie der Beschwerdeführer argumentiert.
Die EU-Kommission wird die Eingabe nun binnen eines Jahres prüfen. Schließt sie sich der Sichtweise der Gesellschaft für Freiheitsrechte an, kann sie ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik einleiten.
Begleitend zu der Beschwerde in Brüssel läuft seit geraumer Zeit eine Online-Petition gegen den Paragrafen 87 des Aufenthaltsgesetzes (gleichbehandeln.de), die den Angaben zufolge bereits von über 22.000 Bundesbürgern unterzeichnet wurde. Schätzungen zufolge, heißt es weiter, „leben mehrere hunderttausend Menschen ohne Aufenthaltstitel oder Duldung in Deutschland“.
Die durch behördliche Übermittlungspflichten hierzulande bestehenden Hürden der Arztinanspruchnahme für Menschen ohne Aufenthaltsstatus dokumentiert die Gesellschaft für Freiheitsrechte ausführlich in der Anfang Mai dieses Jahres veröffentlichten Studie „Ohne Angst zum Arzt“. (cw)