Rechnungshof
Missstände bei kieferorthopädischer Behandlung
Der Bundesrechnungshof sieht keinen nachgewiesenen Nutzen der kieferorthopädischen Versorgung. Und rügt, das Gesundheitsministerium schaue tatenlos zu.
Veröffentlicht:BERLIN. In einem ungewöhnlichen Akt hat der Bundesrechnungshof den Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen in Zweifel gezogen.
In ihren Bemerkungen zum Bundeshaushalt 2016 werfen die Kassenprüfer dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) schwere Versäumnisse vor.
Weder das Ministerium noch die Krankenkassen hätten "vertiefte Kenntnisse über die kieferorthopädische Versorgungslage und -notwendigkeit". Damit seien Ziel und Erfolg von GKV-Ausgaben in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro pro Jahr "nicht bekannt".
Insgesamt 1,103 Milliarden Euro betrugen die GKV-Ausgaben für kieferorthopädische Behandlungen im Jahr 2016, wie aus dem Jahrburch 2017 der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) hervorgeht. Das ist der höchste Wert seit 2003.
Missstand seit Jahren
"Seit Jahren" sei das Ministerium "den Hinweisen auf diesen Missstand" in seinem Geschäftsbereich nicht nachgegangen.
In ihrer Kritik sehen die Rechnungsprüfer offenbar das BMG als Herrin des Verfahrens und lassen nicht erkennen, dass ihnen die Mühlen der Selbstverwaltung vertraut sind.
Entsprechend forsch fallen die Vorschläge aus. Das Ministerium solle "Evaluierungen anstoßen" und auf "Zusammenführung vorhandener und neu erhobener Daten" klären.
Mit Verweisen auf die Normkonkretisierung durch die Selbstverwaltung konnte das BMG offenbar nicht punkten. Der medizinische Nutzen der Kieferorthopädie lasse sich "ohne ein transparentes Behandlungsgeschehen" nicht hinreichend belegen, befindet der Rechnungshof.
Das BMG als Aufsicht dürfe angesichts der "unstreitigen Feststellungen des Bundesrechnungshofs nicht untätig bleiben und auf die Akteure der GKV hoffen".
Auch den Hinweis des Ministeriums, Studien zur kieferorthopädischen Versorgung mit Kindern und Jugendlichen könnten ethisch problematisch sein, wischen die Kassenprüfer vom Tisch: "Entscheidend sind Ablauf und Inhalt der Studien."
Wie viele Bundesbürger sich einer kieferorthopädischen Behandlung jährlich unterziehen, ist offen. Geht man nach den Abrechnungsfällen, die über die KZVen mit den Primär- und Ersatzkassen abgerechnet wurden, bewegt sich diese Zahl zwischen 7,5 und 8 Millionen.
Selbstzahlermarkt im Blick
Der Rechnungshof möchte vor allen Dingen mehr über den Selbstzahlermarkt wissen, der sich in über 15 Jahren als Folge der Einführung der kieferorthopädischen Indikationsgruppen (KIG) entwickelt hat.
Der Behandlungsbedarf wird dabei anhand eines Fünf-Stufen-Schemas ermittelt. Erst die Indikationsgruppen mit dem Schweregrad 3 bis 5 lösen einen Anspruch auf die Kostenübernahme durch die Kassen aus.
Dessen ungeachtet fordert der Rechnungshof eine "umfassende Versorgungsforschung". Dafür müsse bekannt sein, welche Selbstzahlerleistungen die Versicherten erhalten haben.
Eine Mustervereinbarung über Selbstzahlerleistungen, die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung und der Berufsverband für Kieferorthopädie im Jahr 2016 geschlossen haben, reicht dem Rechnungshof nicht.
Das BMG dürfe es nicht "bei ungeprüften Selbstverpflichtungen der Leistungserbringer belassen", rügt er.
Berufshaftpflicht für Vertragsärzte regeln
In einer weiteren Anmerkung fordern die Kassenprüfer, der Bund solle die Berufshaftpflicht für Vertragsärzte im Sozialgesetzbuch V regeln. Bei mehreren Kassen habe es Fälle gegeben, in denen Vertragsärzte nach Behandlungsfehlern nur eine unzureichende Haftpflicht gehabt hätten.
Schadensersatzansprüche der Patienten liefen dann ins Leere. Die Heilberufegesetze mehrerer Länder sähen keine Nachweispflichten und Kontrollen vor, ob eine solche Police abgeschlossen wurde.
Der Verweis des BMG, dies sei Ländersache, verfange nicht. Auch andere freie Berufe wie Rechtsanwälten seien durch Bundesrecht gehalten, eine ausreichende Berufshaftpflicht abzuschließen. (fst/ths)