Coronavirus / COVID-19
NRW-Pädiater klagen über zu häufige „politische Schnellschüsse“
Ohne ärztliches Attest, das ihnen bescheinigt, nicht mit dem Coronavirus infiziert zu sein, dürfen in NRW viele Kinder nicht mehr in die Kita. Kinderärzte halten die Vorstellungen des Familienministeriums nicht nur für medizinisch fragwürdig.
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Corona-Abstrich bei einem Kind. Der Zwang zum Attest sorgt in NRW für Ärger.
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Köln. Kinderärzte in Nordrhein-Westfalen warnen vor einer Überlastung ihrer Praxen durch politische Schnellschüsse. „Wir bekommen ständig neue Verordnungen, aber keiner fragt uns, ob sie auch umsetzbar sind“, kritisiert Christiane Thiele, Vorsitzende des Landesverbands Nordrhein der Kinder- und Jugendärzte.
Aktueller Stein des Anstoßes ist eine Handreichung des nordrhein-westfälischen Familienministeriums zur Betreuung in Kindertagesstätten. Danach dürfen Kinder mit Krankheitssymptomen egal welcher Art und Ausprägung nicht in den Kitas betreut werden. „Sofern aufgrund einer bestätigten SARS-CoV-2-Infektion beziehungsweise aufgrund von COVID-19-Krankheitssymptomen Kinder nicht betreut wurden oder Kinder aus dem Angebot abgeholt werden mussten, ist vor erneuter Aufnahme der Betreuung ein ärztliches Attest vorzulegen“, heißt es in der Handreichung. In Nordrhein-Westfalen gibt es seit dem 8. Juni einen eingeschränkten Regelbetrieb in den Kitas.
Kapazitäten werden gesprengt
Die Umsetzung wird die Kapazitäten in den Praxen der Pädiater und auch der Allgemeinmediziner sprengen, prognostiziert Thiele. Viele verunsicherte Eltern werden auf einen Corona-Test drängen. „Solche Tests sind aber nicht Aufgabe der niedergelassenen Ärzte, sondern des öffentlichen Gesundheitsdienstes“, betont sie.
Es mache keinen Sinn, alle Kinder jetzt wegen jedes Infekts und Symptomen wie Husten, geringer Temperaturerhöhung oder einer laufenden Nase beim Kinder- und Jugendarzt vorzustellen. Da sie aber ein ärztliches Attest benötigen, hätten die Eltern gar keine andere Wahl. Darunter wird die „normale“ Arbeit in den Praxen leiden, fürchtet die Kinder- und Jugendmedizinerin aus Viersen. Schließlich nehme nach den Sommerferien die Zahl der Infektionen ohnehin zu, die Kinder- und Jugendärzte hätten alle Hände voll zu tun. „Wir wollen gute medizinische Arbeit leisten und auch Zeit für unsere Patienten haben.“
Die Handreichung aus dem Ministerium ist nach Einschätzung Thieles nicht nur medizinisch fragwürdig, sondern bringt auch die Eltern in Schwierigkeiten, die sich erneut um die häusliche Betreuung kümmern müssen.
Bei ihrer Kritik gehe es den Ärzten nicht darum, sich der Versorgung unter Corona-Bedingungen zu verweigern, betont Thiele. Das hätten sie mit ihrem Engagement während der Krise unter Beweis gestellt.
Notwendig sind nach Überzeugung der Kinderärzte Konzepte, die auch praktikabel sind. „Deshalb wäre es gut, wenn die Politik im Vorfeld mit uns sprechen würde“, sagt sie. Zudem müssten Ärzte für zusätzliche Behandlungs- und Diagnostikmaßnahmen, die ihnen die Politik zuweist, auch die entsprechende Vergütung erhalten. Vertreter des Berufsverbands wenden sich mit ihren Forderungen auch direkt an Politiker auf Landes- und Bundesebene, sagt Thiele. „Wir müssen ihnen immer wieder sagen: Eure Ideen mögen nett sein, aber sie sind nicht umsetzbar.“
Weitere Studien wären sinnvoll
Für wichtig hält Thiele zeitnahe Untersuchungen, die zeigen, wie ansteckend Kinder nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 tatsächlich sind. Sie verweist auf eine Studie des NRW-Familienministeriums, der Düsseldorfer Universitätsklinik und der Stadt Düsseldorf. Um Informationen über das Infektionsgeschehen zu erhalten, werden in der Landeshauptstadt in 110 Kitas von 3920 Kindern und 1230 Beschäftigten zweimal pro Woche die zu Hause entnommenen Speichelproben untersucht. Auf Basis der Ergebnisse lässt sich ein schlüssiges Konzept für die Kitas entwickeln, hofft die Kinderärztin.