Transplantationsmedizin
Nephrologen proben den Aufstand
Der Leberskandal von Göttingen sitzt den Ärzten noch immer im Nacken. Auch die Nephrologen spüren die Folgen. Auf ihrem Jahreskongress in Berlin haben sie nach einem neuen Weg in der Transplantation gesucht.
Veröffentlicht:BERLIN. In Göttingen steht ein Leberchirurg vor Gericht, gegen einen ehemaligen Kollegen von ihm aus der Gastroenterologie wird gerade ermittelt.
Auch in Münster, in Regensburg, München und in Leipzig sind Staatsanwälte am Ermitteln: der größte Transplantationsskandal in Deutschland, hervorgerufen durch Manipulationen an Leber-Wartelisten, ist noch lange nicht überstanden.
Doch während die Organspendezahlen sinken, sich Frust bei Betroffenen wie Ärzten breitmacht, ist die Debatte über Nutzen und Risiken des hiesigen Transplantationssystems weitgehend verstummt. Zumindest in der Öffentlichkeit, denn hinter den Kulissen wird Tacheles geredet.
Ein Besuch beim diesjährigen Nephrologenkongress in Berlin beweist das eindrucksvoll. Sonntagmorgen, um 8:15 Uhr in der Früh, laufen die Nierenärzte zur Hochform auf und sezieren die Krisen und Ursachen der Transplantation - mit beeindruckender, seltener Deutlichkeit.
Allokationsskandal: ein Problem nicht nur der Leberchirurgen
Hans-Hellmut Neumayer, Professor und Klinikdirektor für Nephrologie an der Berliner Charité mahnt die Zuhörer: "Das Thema ist weitreichender und dramatischer, als es viele von uns wahrhaben wollen."
Er spielt damit auf einen Trugschluss an, dass der "Leber-Allokationsskandal", wie er ihn nennt, nur ein Problem der Leberchirurgen sei.
Dem ist mitnichten so. Denn spätestens sei Bekanntwerden des Skandals im Sommer vor einem Jahr fallen die Organspendezahlen im Land drastisch. Und besonders betroffen ist die Nephrologie als die Disziplin, die bekanntermaßen die meisten Organe transplantiert.
Im Halbjahresvergleich von Januar bis Juni sind in diesem Jahr 17 Prozent weniger Nieren transplantiert worden als 2012 (793 versus 953).
Für den Nephrologen Neumayer sind das "dramatische Auswirkungen auf einem extrem niedrigen und kritikwürdigem Niveau".
Gesucht: Auswege aus der Krise
Doch die Nierenärzte sind nicht zum Wundenlecken nach Berlin gekommen. Sie suchen Auswege aus der Krise, buddeln nach den tief vergrabenen Wurzeln des Übels.
Und eines scheint Neumayer bereits gefunden zu haben, nämlich das "unglückliche Bündnis aus Politikern, Juristen und Gesundheitsmanagern", das Deutschland ein "ungeliebtes" Transplantationsgesetz gegeben habe.
Dieses Gesetz, das TPG, 1997 in Kraft getreten, muss nach Neumayers Analyse mit Schuld daran sein, dass Deutschland bei der Organspende im Nationenvergleich auf den hinteren Rängen mitspielt.
Zur Erinnerung: Beim Vergleich der Organspenden pro Kopf landet Deutschland regelmäßig im hinteren Feld (knapp 13 pro eine Million Einwohner) Spenden. Länder wie Spanien oder auch Kroatien führen mit deutlich über 30 Spenden pro Million die Weltrangliste an.
Die Kritik am TPG ist nicht neu. Eine kleine Bastion von Juristen, Ethikern und auch Ärzten arbeitet sich seit seinem Bestehen an dem Gesetzestext ab.
Er sei ein schlecht gemachter Kompromiss (ohne ausreichende gesellschaftliche Debatten), setze falsche Prioritäten (Dringlichkeit statt Erfolgsaussicht) und habe Verantwortung wegdelegiert, wo das Parlament habe entscheiden müssen (etwa per Richtlinienkompetenz an die Bundesärztekammer).
Diskussionen flammen wieder auf
Lange war es ruhig in der Debatte um Reformen. Zu groß war die Angst bei allen Beteiligten, vor allem innerhalb der Ärzteschaft, eine Diskussion loszutreten, die später nicht mehr beherrschbar ist. Zuletzt hatte sich das bei der sogenannten Entscheidungslösung gezeigt.
Selbst innerärztliche Forderungen nach einer Widerspruchslösung, wie sie etwa in Spanien gilt, ließen sich kaum öffentlich vernehmen - aus Angst vor der vermeintlichen Angst des potenziellen Organspenders.
Doch spätestens seit den Skandalen flammen die Diskussionen wieder auf, wie jüngst etwa im Ethikrat - und nun ganz öffentlich bei den Nephrologen.
Und die haben eine weitere Ursache für die derzeitige "Krise auf niedrigem Niveau" gefunden.
Neumayer: "Wir alle wissen das, es sind die Ökonomisierung, der Druck des Geldes, die Ruhmsucht der Eliten und das Fehlen von Langzeiterfolgsdaten, die verhindern würden, dass wir nur noch nach Zahlen streben."
Organspende miserabel, Transplantation prächtig bezahlt
Die Analyse ist knapp wie präzise. Organspende wird in den Augen vieler Kliniker miserabel bezahlt, Transplantation hingegen prächtig. Letztere liefert einen gewaltigen Anreiz zur medizinisch fragwürdigen Mengenausweitung oder gar Manipulation, ersteres hingegen wird die Spendesituation im Land niemals verbessern können.
Auch der Duktus mancher Chirurgen vom "Halbgott in Weiß", der auch von der sagenumwobenen Pichlmayr-Schule gehegt und gepflegt wurde, für die Regeln notfalls interpretierbar waren, mag seine Spuren hinterlassen haben.
Und letztlich das Kardinalversagen des deutschen Gesundheitswesens im Allgemeinen und der Transplantation im Speziellen, sich nämlich nicht in die "Bücher schauen zu lassen", gemeinhin also nichts vom Publizieren und Vergleichen belastbarer Qualitätsdaten zu halten.
All das hat ganz maßgeblich zum unangenehmen Status quo beigetragen. Kein Zuhörer im Saal wollte Neumayer da widersprechen, wie könnte man auch.
Stellenwert des Labor-MELD-Score sinkt
Soweit zur den Wurzeln des Übels, doch der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Die haben die Nephrologen auch bei den Richtlinien der Lebertransplantation gefunden, wenngleich sie hier über das Fach anderer Kollegen sprechen.
Zur Erinnerung: Die Allokation einer neuen Leber erfolgt gewöhnlich über den Labor-MELD-Score, das Model for Endstage Liver Disease, anhand von Bilirubin, Kreatinin und INR. Je höher der Wert auf einer Skala bis 40, desto schlechter sind die Chancen des Patienten, die nächsten drei Monate zu überleben.
Doch der Stellenwert des labMELD, wie er auch genannt wird, sinkt, wie Professor Bernhard Banas vom Uniklinikum Regensburg anhand bayerischer Daten gezeigt hat.
Nur 358 Transplantationen im Freistaat in den Jahren 2007 bis 2012 wurden über den MELD-Score zugeteilt, also gerade einmal 39,95 Prozent der 896 Transplantationen in dieser Zeit.
Der große "Rest" waren etwa Rettungsallokationen, Retransplantationen oder eben auch die sogenannten Standardausnahmen. Und derer gibt es bei der Lebertransplantation immerhin 17, also Indikationen bei denen direkt ein "MELD-Zuschlag" gewährt wird, matchMELD wird er deswegen genannt.
"Ausnahmen sind nicht mehr zu überblicken"
Der Berliner Nephrologe Neumayer sagt: "Das ist das Zweite, das die Lebertransplanteure falsch machen." Die Ausnahmen seien nicht mehr zu überblicken.
Und sie führen laut Neumayer sogar dazu, dass die Top-3-Indikationen bei den Lebertransplantationen allesamt solche sind, "bei denen Patienten besser nicht transplantiert werden sollten".
Unter anderem zählen zu den Top-3 die alkoholische Leberkrankheit oder bösartige Neubildungen. Für beide kennt die einschlägige BÄK-Richtlinie zahlreiche Bedingungen, damit Patienten überhaupt auf der Warteliste geführt werde dürfen.
Doch laut Neumayer muss es offensichtlich das Problem sein, dass diese Vorgaben nicht gut genug überprüft werden.
Doch inwieweit hilft der Blick der Nephrologen über die Chirurgenschulter? Professor Uwe Heemann vom Klinikum rechts der Isar in München, dessen Leberprogramm selbst in Verruf geraten war, sieht auch bei den Nierentransplantationen Probleme, die auf ihre Lösung warten.
Ein pikanter Vorstoß
Etwa die Wartezeit auf eine neue Niere. Im Schnitt müssen die Patienten sieben Jahre warten, bis sie ein neues Organ bekommen. Bei den Nieren sind vor allem die HLA-Matches (Human Leukocyte Antigene), also die Antigenverträglichkeit von Spenderorgan und Empfänger maßgeblich. Heemann: "Aber je länger wir warten, desto schlechter ist der Outcome."
Will heißen: Warum sollte man solchen Patienten noch ein neues Organ zuteilen, wenn ihre Krankheit in den letzten Jahren im schlimmsten Fall fortgeschritten ist und die Aussichten auf ein Langzeitüberleben des neuen Organs mit jedem Jahr geringer werden?
Heemann wagt einen pikanten Vorstoß: "Solche Leute sollten wir delisten." Er sieht ein Problem in der fehlenden Berücksichtigung der Empfänger, also ob ein Patient auf der Warteliste überhaupt sinnvollerweise ein Organ erhalten sollte.
"Die jetzige Verteilung auf Basis der HLA lässt die Empfängerqualität völlig außer acht." Eigentlich sollte es der Nephrologie darum gehen, möglichst "viele gute Organe" zu transplantieren. "Aber wir tun alles, das nicht zu erzielen."
Für Heemann müsste die Devise schließlich lauten: "Gute Nieren für gute Patienten."
Es gilt die Devise der Dringlichkeit
Sein Vorschlag eines Empfängerscores ist für deutsche Verhältnisse weitgehend revolutionär, denn hier zu Lande gilt zwar die Devise von Erfolgsaussicht und Dringlichkeit bei der Organallokation, doch gerade bei den Lebern hat sich wegen die MELD-Scores vor allem die Dringlichkeit als Kriterium durchgesetzt.
Qualitätsindikationen, die Einbeziehung von Erfolgsaussichten, notfalls auch die Entscheidung gegen eine neue Niere für den 65-jährigen Diabetespatienten - Fehlanzeige.
Revolutionäre Gedanken bleiben freilich nicht selten ohne Diskussion. Und so machte sich rasch eine Diskussion unter den Teilnehmer breit, spätestens als es um die Frage ging, ob und wie die bestehenden Strukturen aus DSO (Deutscher Stiftung Organtransplantation) und ET (Eurotransplant) reformiert werden sollen.
Etliche Nephrologen warten vor übereilten Reformen, priesen das bestehende Eurotransplant-System sogar als "das beste weltweit".
Professor Ulrich Frei, ärztlicher Direktor an der Charité, sah sich letztlich zu einer Warnung aus dem Auditorium gezwungen: "Zynismus und Defätismus sind keine guten Ansätze für Lösungen."
Das Drehen am Allokationssystem bezeichnet er als "recht fantasielos". Frei: "Dann haben wir eine philosophische Debatte."
"Bestehendes System ausreizen"
Sein Rat ist der, das bestehende System auszureizen: "Wir Nephrologen müssen selbst mehr in der Spende machen." Also letztlich auch Werbung. Und man müsse auf eine bessere Finanzierung hinwirken. "Die Logik unseres Systems ist ökonomisch. Wir müssen nur die Spender darin höher gewichten."
Für die Organspende und -entnahme müssten die Kliniken schlicht mehr Geld bekommen. Erst dann hätten sie einen richtigen Anreiz, die Organspendezahlen aus eigenem Antrieb zu steigern, etwa mit mehr Personal für die Transplantationsbeauftragten und besseren Schulungen der Ärzte.
"Und mit der Transplantation müssten die Häuser gerade so ein kleines Defizit machen."
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