Ausstiegs-Theorie
No-COVID als Ausweg aus dem „Stotter-Lockdown“
Wissenschaftler schlagen positiven Wettbewerb der Regionen um die geringste Inzidenz vor. Dafür sollte der Lockdown verlängert werden. Eine Studie sieht in der Bevölkerung dafür eine Mehrheit.
Veröffentlicht:Berlin. Wissenschaftler haben am Montag für einen Strategiewechsel in der Corona-Politik von Bund und Ländern plädiert. Im Kern geht es bei der „No-COVID“-Strategie darum, „Grüne Zonen“ zu schaffen, in denen Inzidenzen nahe Null herrschen und mehr öffentliches Leben möglich sein solle als in Regionen mit höheren Inzidenzen. Vorbilder sind Finnland, Australien und Taiwan.
Dafür müsste der Lockdown um weitere vier bis sechs Wochen verlängert werden, sagte der Onkologe und Leiter der Medizinischen Klinik I am Universitätsklinikum Köln, Professor Michael Hallek, bei einer virtuellen Pressekonferenz am Montag in Berlin. Die laufenden Einschränkungen sollten daher nicht abgebrochen werden, wenn die Sieben-Tage-Inzidenz 50 unterschreite.
Infektionsgeschehen
So hoch ist die Corona-Inzidenz in den einzelnen Städten und Landkreisen
Mutationen häufiger als gedacht
Die Gefahren seien damit nicht gebannt. Die neuen Mutationen träten häufiger auf als bislang gedacht und lägen Untersuchungen der Universität Köln zufolge bei fünf Prozent der Neuinfektionen. „Wenn der Lockdown zu früh gelockert wird, werden wir binnen kurzem extreme Ausbruchssituationen haben“, warnte Hallek.
Flankiert werden müsste das Vorgehen um einen massiven Ausbau der Teststrategie und eine erhebliche durchschnittliche Verkürzung der Frist vom ersten Auftreten der COVID-19-Symptome und dem Beginn der Quarantäne. Die liege bei rund neun Tagen. „Da müssen wir Tempo machen“, sagte Hallek.
Am Mittwoch will eine Gruppe von Wissenschaftlern der Politik einen Instrumentenkasten für einen solchen Strategiewechsel vorlegen.
„Die Lethargie macht uns fertig“
Auf das Ausbruchsgeschehen müsse die Politik „schnell, gezielt und vor allem automatisiert“ reagieren, sagte Professor Dirk Brockmann, Leiter der Forschungsgruppe für komplexe Systeme an der Humboldt Universität Berlin. Das vergangene Frühjahr habe gezeigt, dass auch Deutschland niedrige Inzidenzen erreichen und somit dem Virus vorauskommen könne.
Nach Ansicht der Wissenschaftler ergeben sich damit Optionen für alternative Strategien heraus aus dem „Stotter-Lockdown“. Die Möglichkeiten des Föderalismus sollten daher für ein „fragmentiertes Corona-Management“ und einen Inzidenzwettbewerb zwischen den Regionen genutzt werden. Das sei ein positiver Wettbewerb, mit dem sich die Politik Entschlossenheit zurückholen könne. „Die Lethargie macht uns fertig“, sagte Hallek.
Mögliche Modellregionen, die früh als Grüne Zonen in Frage kämen, seien Münster und Rostock. In der Regel fänden 80 Prozent aller Verkehre innerhalb eines Landkreises statt, nur 20 Prozent überschritten die Kreisgrenzen. Dort müsse man bei Kontrollen ansetzen, sagte Brockmann. Tatsächlich hielten die Kreise in der Regel Mobilitätsanalysen vor, die dafür genutzt werden könnten.
Bevölkerung wünscht klare Ziele
In der Bevölkerung ist der Wunsch nach einer längerfristigen Strategie verbreitet. Darauf machte die Heisenberg-Professorin für Gesundheitskommunikation der Universität Erfurt Professorin Cornelia Betsch aufmerksam. „Eine planbare, klare Strategie wirkt motivierend“, sagte Betsch.
In der von ihr ins Leben gerufenen COSMO-Studie haben in der jüngsten Befragungsrunde von 1000 Personen 79 Prozent für eine längerfristige Lösung plädiert. Die COSMO-Daten seien nachgerade als Auftrag an die Politik zu verstehen, etwas Neues zu entwickeln.
In der Befragung zeigte sich, dass eine Mehrheit eine schnellere Öffnung erwarte, wenn gemeinsam niedrige Fallzahlen erreicht würden, als wenn der Lockdown durch ein Datum beendet würde. Ebenfalls eine Mehrheit der Befragten schätzte, dass es noch sieben bis acht Wochen dauere, bis die Einschränkungen gelockert werden könnten. Die No-COVID-Strategie war lediglich 29 Prozent der Befragten bekannt.