Fukushima
Psychische Gesundheit – die größte Baustelle
Die Professorin Hisako Watanabe gehört zu den angesehensten Expertinnen für Kinderpsychiatrie in Japan. Im Interview moniert sie massive Defizite in der psychischen Versorgung von Opfern der Atomhavarie in Fukushima.
Veröffentlicht:Hisako Watanabe
Aktuelle Position: Kinderpsychiaterin mit 43 Jahren Praxiserfahrung, Vorstandsmitglied der World Association for Infant Mental Health, Präsidentin der Japan Association for Infant Mental Health, Supervision und Beratung von Fachkräften für psychische Gesundheit von Kindern in Nordostjapan.
Ausbildung: Studium der Pädiatrie, Psychiatrie und Neurologie an der medizinischen Fakultät der Keio Universität in Tokio.
Karriere: Nach dem Studium Niederlassung in eigener Praxis für Kinderpsychiatrie in Yokohama. 1990-1992 zweijähriger London-Aufenthalt zur Fortbildung an einem der führenden Zentren für psychoanalytisch fundierte Psychotherapie, der Tavistock-Klinik. Von 1993 bis zur Pensionierung 2014 Assistant Professor an der Fakultät für Pädiatrie der Keio Universität in Tokio.
Ärzte Zeitung: Was sind sechs Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima die größten Probleme und Herausforderungen für die Opfer?
Hisako Watanabe: Ich unterscheide zwei Gruppen. Die eine Gruppe sind Opfer, die weiter in den hastig gebauten Übergangswohnungen leben, weil sie sich kein neues Leben aufbauen konnten. Bald fallen finanzielle Zuwendungen weg, Übergangswohnsiedlungen werden aufgelöst. Ältere Menschen werden dann in ihre kontaminierten Häuser zurückkehren, getrennt von ihren Kindern und Enkeln, mit gemischten Gefühlen wie Schuld, die sie empfinden, weil sie das Land ihrer Vorfahren durch die radioaktive Kontaminierung zerstört haben. Und mit der Entschlossenheit, dort zu sterben, während sie zugleich wissen, dass ihr Dorf mit ihrem Tod aufhören wird zu existieren.
Die andere Gruppe sind Familien mit Kindern, die damals trotz hoher Strahlung von einem vom Staat geschickten Radiologie-Professor erst zum Bleiben überredet und später doch evakuiert wurden, wie im Fall des Dorfes Iitate. Sie fühlen sich als menschliche Versuchskaninchen. Über ganz Japan verteilt verstecken sie ihre Herkunft, um nicht ausgeschlossen zu werden – voller Angst, dass sie sich und die künftigen Generationen unmittelbar nach der Katastrophe einer hohen Strahlungsdosis ausgesetzt haben.
Was ist die größte Herausforderung für medizinisches Personal in der betroffenen Region?
Die größte Herausforderung ist die Angst vor sozialer Unterdrückung sowie die Suche nach den wahren Folgen für die Gesundheit. Die japanische Nation als Ganzes empfindet eine so tiefe Scham in Bezug auf die Katastrophe im AKW, dass sie diese vergessen möchte und so tun möchte, als sei sie vorbei. Aber sie ist überhaupt nicht vorbei. Sechs Jahre danach wissen wir noch immer nicht, was in den Reaktoren passierte. Wir haben nicht ein einziges Werkzeug entwickelt, das der destruktiven Kraft der Strahlung standhält. Und die medizinische Gemeinschaft wird still dazu gezwungen, mit der Regierung in Tokio zu konspirieren, damit diese weiter auf die Atomkraft setzen kann .
Welche Veränderungen haben Sie im Laufe der vergangenen sechs Jahre bei der psychischen Gesundheit von Kindern festgestellt? Was erwarten Sie in der Zukunft?
Unter den Kindern von Fukushima sind verschiedene komplexe Folgen der Katastrophe verbreitet, die vom Verlust des normalen Alltags und vom Trauma durch das Desaster herrühren. Dazu zählen physische Phänomene wie Adipositas oder der Verlust körperlicher Kraft und Fähigkeiten. Dazu zählen aber auch emotionale Folgen durch die Entwurzelung damals, wie das Zerbrechen von Familien, häusliche Gewalt, Alkoholismus der Eltern, Depressionen und Selbstmord. Soziale Folgen sind, dass betroffene Kinder gehänselt und ausgeschlossen werden und ihre Zukunftsträume verlieren.
Bei Kindern, die kurz vor oder nach dem Desaster zur Welt kamen, ist die Entwicklung der Sprache oder der zwischenmenschlichen Fähigkeiten verzögert, wohl wegen des chaotischen Lebens nach der Katastrophe. Bei solchen fünf- oder sechsjährigen Kindern stellen Betreuer fest, dass diese mitunter hyperaktiv, sprunghaft, ruhelos und labil sind.
Wie sehen Sie die Dekontaminierungsarbeiten rund um Fukushima?
Das bringt nur etwas in Gebieten mit wenig Strahlung wie der Stadt Koriyama, um das Leben zu normalisieren. In der Nähe des AKW führt das zu keiner Lösung. Es ist nur eine Performance, um die Leute glauben zu lassen, dass sie zurückgehen und dort wieder leben können.
Reagieren die vom GAU Betroffenen über?
Es gibt nirgends auf diesem Planeten verlässliche Daten darüber, welcher Grad an radioaktiver Strahlung sicher ist. Weder nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki noch nach dem Tschernobyl-Desaster wurden verlässliche Daten erhoben. Wir müssen von Null beginnen und korrekte Daten sammeln. Das ist das Ziel der Mütterorganisation Tarachine.
Was denken Sie über die Reihenuntersuchungen von Kindern in Fukushima?
Idealerweise sollten alle Kinder in Japan untersucht werden, um eine verlässliche Basis zu haben. Wir möchten wissen, was der durchschnittliche Wert bei gesunden japanischen Kindern ist. Zwar ist das gegenwärtige System voller Defekte, aber besser als nichts – damit die Japaner das Fukushima-Desaster und das Leid der Menschen dort nicht vergessen. Das Problem ist allgemein, dass die Menschen, die wirklich untersucht werden sollten, sich nicht untersuchen lassen – aus Angst vor Ausgrenzung.
Sollte es mehr Bewusstsein für Fragen der psychischen Gesundheit in Japan geben?
Ohne Zweifel! Psychische Erkrankungen sind immer noch mit einem starken Stigma verbunden. "Nein, danke! Wir brauchen hier keine Fachkräfte für psychische Gesundheit!" – Solche Notizen fand man an vielen Anschlagbrettern in den Notunterkünften nach der Katastrophe. Das aktuelle Ausbildungsprogramm für angehende Psychiater und Psychologen ist so oberflächlich und schwach.
Leider ist Japan dafür bekannt, mentale Störungen zu überdiagnostizieren und zu viele Medikamente zu geben. Ein Beispiel: Bei sieben von zehn Kindern, die zu mir mit der Diagnose Autismus überwiesen wurden, war diese falsch. Sie waren nicht autistisch, sondern litten an einem reaktiven Trauma oder zeigten das typische Verhalten von Kindern zwischen zwei und drei Jahren als Reaktion auf Stress.
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